Mein gelbes Notizbuch #2 ­ Echoes (Autobiografisches 1967-1971)

Ein auf dem Flügel angeschlagener hoher Ton. Verhallt. Von weit her. Aus dem All. Oder aus dem Meer. Wie ein Echolot. Stille. Dann wieder: „Ping!“ Und Stille … „Ping!“… Einmal, zweimal, dreimal … Eine rechte Hand spielt ruhig angeschlagene dreigestrichene h’s; dazwischen Pausen. Findet nun in einer Abwärtsbewegung die Quarte in fis, dann die Septe in cis. Stille. „Ping!“

Nach und nach entsteht eine Welt. Eine Welt aus Klang. Eine klangliche Erzählung. Ist es geboren aus dem Motiv, innere Vorgänge auszudrücken, oder äußere Vorgänge zu beschreiben? Oder reflektiert der Musikmachende sein Inneres durch eine Inspiration aus der äußeren Welt, ist das musikalische Werk, das wir hören, demnach eine Art Echolot, eine Ortsbestimmung des eigenen Selbst in der Welt?

Ich beschreibe den Anfang des Pink-Floyd-Klassikers „Echoes“, weil mir spontan kein treffenderes (Hör-)Bild dafür einfällt, wie ich, gerade knapp vier Jahre alt, bei Freunden meiner Eltern das Klavier und damit die Welt der Musik für mich entdeckte.

Ich war fasziniert von dem Flügel, diesem ungeheuren Getüm, das mich irgendwie an einen Wal, an einen Elefanten erinnerte. Den schweren Deckel zu heben, meine Finger sanft und mit großer Behutsamkeit über die Tasten gleiten zu lassen, um dann eine Taste herunterzudrücken und den ersten Ton meines Lebens zu spielen – und ihm nachzulauschen. Ihn wieder und wieder zu spielen und wie vom Donner gerührt zu sein, weil es mich so derart begeisterte! Ich hatte etwas gefunden. Etwas Magisch-Wunderbares. Ich war allein im Zimmer. Nur das Klavier und ich. Und die ganze Welt war auf einmal da. Ich war komplett. Komplett glücklich. Stille. Klang. Raum. Vibration. Phantasie. Ausdruck. Selbsterkenntnis. Freiheit!

Ich höre, also bin ich.
Ich spiele, also bin ich.

Carl Orff hat es so beschrieben: „Elementare Musik ist erdnah, dem Kind gemäß … Elementare Musik, Wort und Bewegung, Spiel, alles, was Seelenkräfte weckt und entwickelt, bildet den Humus der Seele, Humus, ohne den wir einer seelischen Versteppung entgegengehen. Wann tritt in der Natur Versteppung ein? Wenn eine Landschaft einseitig ausgebeutet wird, wenn der natürliche Wasserhaushalt durch ein Übermaß an Kultivierung gestört wird, wenn aus Utilitätsgründen Wald und Hecken dem Reißbrett-Denken zum Opfer fallen, kurz – wenn das Gleichgewicht der Natur durch einseitige Eingriffe verloren gegangen ist. Und ebenso gehen wir einer seelischen Versteppung entgegen, wenn der Mensch, dem Elementaren entfremdet sein Gleichgewicht verloren hat.“
(Carl Orff, „Gespräche mit Komponisten“)

Meine Eltern erfüllten mir meinen Herzenswunsch: Ich bekam mein eigenes Klavier! Es stand in meinem Kinderzimmer neben meinem Bett und war Zentrum meiner Lieblingsspielzeuge. Mit dem Klavier konnte ich alles tun: Ich konnte mit ihm zusammen erzählen, was ich erlebt hatte. Was ich liebte und was ich nicht mochte. Wovor ich Angst hatte und was ich gerne sein wollte.

In der Musik fühlte ich mich als freier kleiner Mensch in einer Welt ohne Gebote und Verbote. Ich musste nichts rechtfertigen. Nichts erklären. Es war BEDINGUNGLOS. Ohne äußeren Zwang und jenseits von überfrachteten Erwartungen. Nicht Ergebnisse spielten eine Rolle, sondern nur das Erlebnis an sich. Nur mein Klavier und ich und ein unendliches Meer an Möglichkeiten.

Heute glaube ich, dass jeder Mensch am Anfang seines Lebens ganz unbewusst den gleichen Wunsch in sich trägt: liebevoll geachtet und beschützt zu sein und wachsen zu wollen, so wie er ist und nicht so, wie er sein soll.