Mein gelbes Notizbuch#3 – Kinderseele und Konservatorium (Autobiografisches 1971–1974)

Eine aus dem Inneren kommende Vertrautheit und intuitive Verbundenheit (die im gängigen Sprachgebrauch „Begabung“ oder „Talent“ genannt wird), Unterstützung und Bestätigung durch positive Resonanz aus dem direkten Umfeld und unbändige Freude am Erleben an sich (und ohne die Angst, dabei Fehler machen zu können, oder an erwarteten Resultaten gemessen zu werden), ergeben den magischen Dreisatz, aus dem KREATIVITÄT, SELBST-VERTRAUEN und Aufbau einer IDENTITÄT erwachsen können.

Sind diese Bedingungen gegeben, so wird Spielen, Erleben und Lernen eins. Und führt zu persönlichem Wachstum.

Ich hatte eine Klavierlehrerin, die es wunderbar verstand, aus mir selbst heraus meinen musikalischen Horizont zu erweitern, indem sie zuallererst versuchte, meine Wünsche, meine Vorlieben und mein Potenzial zu ergründen. Es wurde also kein Unterricht nach Vorschrift exerziert, sondern es war gemeinsam am Flügel verbrachte Zeit, die mich die klassische Musik als phantastisches Abenteuer und gelebte Geschichte entdecken ließ. Bach, Mozart und Beethoven waren keine drohenden und einschüchternden Gottheiten, deren Werke in Blut, Schweiß und Tränen abgearbeitet werden mussten, sondern Lichtgestalten aus Fleisch und Blut, die mich mit unendlich viel Inspiration und Faszination auf meinem eigenen musikalischen Weg begleiteten.

Mir wurde bald eine „Hochbegabung“ attestiert, die zur Aufnahme an das Konservatorium führte. Dort geschah, was ich heute als „Schwarze Pädagogik der klassischen Musik“ (vgl. Ballett, Sport, Eliteschulsystem etc.) bezeichnen würde. Hier war es nun plötzlich so, dass mir eine Autorität sagte, was in der Musik (die bisher für mich ein Synonym für freien, eigenen Ausdruck schlechthin darstellte) „richtig“ und was „falsch“ sei, wie und was MAN zu tun, zu machen und zu lassen hätte. Musik war nicht mehr Spiel und Ausdruck von Freude und Persönlichkeit, sondern ein Regelwerk, ein hierarchisches Ordnungssystem, eine Aufgabe, die – koste es was es wolle – zu erfüllen sei.

Ich empfand das Konservatorium als eine Art Kadettenschule für bürgerliche Musik-Wunderkinder. Exerzierplatz war der Musikraum, in dem die Lehrenden es als ihre Hauptaufgabe ansahen, die Persönlichkeiten ihrer Schüler zu brechen, um auf diese Weise formbares Material zu erhalten, das ihnen als williges Werkzeug ihrer eigenen Ambitionen dienen sollte und konnte. Mir begegneten hocheffiziente und hochvirtuose kleine Tastenroboter, deren Freud, Leid und Existenzberechtigung davon abzuhängen schien, ob sie auf irgendwelchen Vortragsabenden oder Wettbewerben möglichst schwierige Musikstücke möglichst perfekt abspielen konnten.

Eine Zeit lang versuchte ich freiwilliges Ich und verordnetes Ich irgendwie miteinander in Einklang zu bringen. Doch der Druck und auch die Angst nahmen zu. Und meine kleine Musik-Welt brach zusammen: Das Klavier verwandelte sich mehr und mehr vom geliebten Instrument zum drohenden Mahnmal dafür, meine Hausaufgaben nicht pflichtschuldig und den Erwartungen entsprechend erledigt zu haben.

Man weiß das, und trotzdem wird es praktiziert: Äußerer Zwang und damit verbundenes schlechtes Gewissen machen auf kurz oder lang jede Begeisterung, jede innere Überzeugung kaputt. Verbote, Bestrafungen, Druck, Zurückweisungen jeder Art wirken sich traumatisch auf das feine und ungeschützte Seelenleben eines hochsensiblen Kindes aus. Und dominieren später aus dem abgespaltenen Unterbewusstsein heraus unsere Verhaltensweisen – ein Leben lang!

Wie war es bei mir? Wehren konnte ich mich nur durch Rückzug – ein Phänomen, das sich, wie wir sehen werden, wie ein roter Faden durch meinen Lebensweg zieht. An dieser Stelle hätte womöglich meine Biografie als musizierendes Wesen enden können. Ausschlaggebend dafür, dass es anders kam, sind aus meiner Erinnerung heraus vor allem zwei Gründe.

  1. Meine Eltern respektierten UND unterstützen vorbehaltlos meinen Wunsch, das Konservatorium verlassen zu dürfen.
    2. Ich hörte im Radio eine Musik, die anders klang als alles, was mir bisher in meinem elfjährigen Leben begegnet war. Das Stück hieß „Autobahn“ von einer deutschen Gruppe namens Kraftwerk …