Produktionszeitraum: Nov. 1999 bis Jan. 2004 I Veröffentlicht im April 2009 auf time out of mind-records I Format: CD

A: Mit Haut & Haar (5 Stücke für Klavier, 1999)

01 Mit Haut & Haar 02:13
02 Mit Haut & Haar 2 01:57
03 Mit Haut & Haar 3 02:27
04 Mit Haut & Haar 4 01:42
05 Mit Haut & Haar 5 02:05

 

B: Schisma (5 Klangzustände, 2004)
06 Schisma 1 : Unschärfen 04:25
07 Schisma 2 : Roulette 05:04
08 Schisma 3 : Wiegenlied 03:54
09 Schisma 4 : Simulation 03:24

10 Schisma 5 : Unter Eis 01:59

 

C: Cibo Matto (Klanggedicht für Stimme und Rückkopplung, 2000)
11 Cibo Matto 04:54
12 Cibo Matto Remix III 02:23

 

D: Memory (Musik für Streichquartett, 2000)
13 Memory 2 : Erste Liebe 04:19

14 Memory 3 : Angstmomente 03:29
15 Memory 6 : Uhrwerk 01:15

16 Memory 7 : Porzellan 04:14

17 Memory 4.1: Von Neunzig auf Null 04:05

 

E: Zoltan Vargas – Serie 1 (4 Klangstücke, 2001)
18 Der Traum im Zug 03:34

19 Praha 1968 02:31
20 Schwarze Pumpe 02:30
21 Die Schachnovelle 02:28

 

F: Die Frau vom Meer (Musik für Sopran, Countertenor und Harddiskrecording, 2003)

22 Schützende Engel 02:27
23 Kommentierende Engel 01:49

24 Freiheitsblitz 06:51

 

 

 

 

 

 

composed & produced by harald blüchel, 1999 – 2004
published by cosmic enterprises music & publishing GmbH
mastered by wolfgang ragwitz
graphics: rainer schleßelmann
TOOM 104, 2008

 

 

 

 

GEDANKEN:

 

Die Stücke auf „Electric Chamber Music“

Der abschließende dritte Teil „electric chamber music“ fasst sechs von einander unabhängige Projektarbeiten zusammen, die zwischen 1999 und 2004 entstanden und abgeschlossen worden sind.

 

A: Mit Haut & Haar (5 Stücke für Klavier, 1999)

Musik zum gleichnamigen Dokumentarfilm von Martina Döcker & Crescentia Dünsser (ZDF/ARTE, 1999).
Sechs alte Frauen mit unterschiedlicher geographischer und sozialer Herkunft erzählen ihre privaten Geschichten des abgelaufenen Jahrhunderts. Das Gedächtnis, aus dem sie dabei schöpfen, ist ihr Körper, ihr Geist, ihre Seele. Aus Kindheitserinnerungen, die unmittelbar am Körper haften, aus Erinnerungen an die Zeit des zweiten Weltkrieges und schliesslich aus den Gedankenbruchstücken über Alter und Tod entstehen in Kombination mit Kamerafahrten über die Körper der Porträtierten unverwechselbare „Landschaften von gelebter Zeit “.

 

B: Schisma (5 Klangzustände, 2004)

1991 hatte ich Musik für Sylvia Kirchhofs Kunst-Video „Die Fliegenklatsche“ komponiert. Der Film basiert auf Super-Acht-Dokumentationsmaterial über zwölf manisch depressive Patienten. Bei der Arbeit registrierte ich damals fast belustigt, wie leicht es mir fiel, das, was ich sah, in klangliche Zustände übersetzen zu können. Als ich gute zehn Jahre später im Zusammenhang mit „caged“ wieder auf das Thema zurück kam, realisierte ich das, was ich damals nonchalant eher als inspirierendes Spiel erlebt hatte, als das, was es wirklich gewesen war: eine unbewusste Identifikation, ein Nachvollziehen-Können, eine Erinnerung und ein Wieder-Erleben von eigenen seelischen Zuständen.
2004 bearbeitete ich unter dem Einfluß der gewonnenen Erkenntnisse fünf dieser Klangbilder neu.

 

C: Cibo Matto (Klanggedicht für Stimme und Rückkopplung, 2000)

Text & Stimme: Sabine Sölbeck

cibo matto

lehnen die rücken weich
an den quadraten der ledernen polsterung
und dämpfen die laute der strasse, die
das fensterglas lebendig widerspiegelt.

heben die hände die gläser zum mund
heben die hände knieend die gläser zum mund
zum mund
und der mund nimmt
der mund nimmt das süsse liquid
das süsse

süsse zur wiegenden melodie
wiege dich
zur wiegenden melodie

so mögen alle sinne die nacht
die uns einatmet
atmet und wir sie. und
wir ihren spiegelnden glanz
aus lichtern,
aus farben
aus melodie
aus

ausweg
bewegung
regung
moment

mögen alle sinne die nacht
die uns auf den weg bringt
in die wärme
in das zuckende licht
in die zweisamkeit aus der einsamkeit
in die einsamkeit aus der zweisamkeit
in das trotzige tam-tam der stadt
tam-tam
tam-tam
um anzuhalten das gewöhnliche
um festzuhalten das aussergewöhnliche
ausser zweifel
aus

ausweg
bewegung
regung
moment

nur der ausschnitt einer beobachtung
ins auge gefasst die nacht, die zeitlos
menschenleiber transportiert
vorbei in der mitte auf schienen geordnet in schalensitzen
und weiter rechts körper
im doppel- oder viererpack
im blechwrack
vorbei am verzerrenden milchglas
ohne einzukehren ins konkrete arrangement eines stils
nicht kühl noch warm
aber direkt-scharfsinnig

scharf
kühl
warm
direkt

oder um einzukehren
konkret platz zu nehmen
die hände zum mund zu führen
und sprache zu teilen
und blicke
und lachen
und liebe
zur flamme auf dem tisch
flammen.

am fensterglas wieder laufen beine und körper in zweierlei richtungen vorbei
sich zug um zug fortbewegend auf der nassen nachtstrasse
und in ihr die lichter tausendfach gebrochen
züngelt die flamme im warmen schein am milchglas empor
nimmt es die regung auf
und es mag die sünde
stottert die flamme ein gebet zum milchglas das erhört wird
und das spiel wird reger.

hände schieben vorhänge auseinander
bahnen sich neue wege, um zu teilen
blicke
lachen
liebe
schaut die flamme in die nacht
darf züngeln und im moment unsere lippen befeuchten.

im morgengrauen
grauen
grau.

 

D: Memory (Musik für Streichquartett, 2000)

MEMORY – eine Videooper von Otto Kukla / Theater Neumarkt Zürich, 2000 gespielt vom AMAR QUARTETT.

Anna E. Brunner: Violine – Lorenz Gamma: Violine – Hannes Bärtschi: Viola – Maja Weber: Violincello

(…) Es braucht einen Motor, der immer wieder antreibt. Zwischen Videowänden und Mikrofonen sitzt aufgereiht das Amar-Quartett. Harald Blüchel hat für die vier jungen Streicher eine packende Musik geschrieben. Bruchstückhaft ist sie, repetitiv und expressiv, sie schwillt an, stirbt ab, pathetisch und komisch. Das Cello rattert maschinenhaft, die Geigen tönen spitz, hell und grell. Die Musik ist der Herzschlag der Aufführung.(…)

Peter Müller, Neue Züricher Zeitung 01.07.2000   

 

(…)Zwischen Jung und Alt, zwischen die Wirklichkeit unten und die oben hat Otto Kukla, der für Regie, Bühne und Video verantwortlich zeichnet, einen Strom aus Musik fliessen lassen. Sie treibt, pocht wie ein Pulsschlag, hektisch fast, dann wieder sanft: ein faszinierender Soundteppich a la Michael Nyman als Unterton dreier Biographien, in den immer wieder ein, zwei Motive eingewoben sind – Echos eben wie im wahren Leben. Harald Bluechel alias Cosmic Baby, der auf dem Weg zum Konzertpianisten die elektronischen Klänge für sich entdeckte, hat für das Züricher Streichquartett Amar die „Memory“-Partitur komponiert. Die vier mehrfach ausgezeichneten jungen Musikerinnen und Musiker sitzen zwischen Screens und Schauspielern, ein Cellostrich kommentiert die Erinnerung an „Grossmammachen“ und ihren Terrier, das Rasen des Quartetts bebildert den Bombenhagel, durch den die Flucht zum rettenden Bunker ein Albtraum wurde.(…)

Alexandra M. Kedves, Tages Anzeiger, Zürich 01.07.2000   

 

E: Zoltan Vargas – Serie 1 (4 Klangstücke, 2001)

Traum im Zug
die nacht raucht ihre letzte zigarette
vor der dämmerung.
an einem fensterplatz im „hungaria“ budapest-berlin
erwache ich aus einem traum.
Praha 1968
kundera im kopf
klopft im heissen prag 1968
flimmernder sozialismus
mit menschlichem antlitz
Schwarze Pumpe
rostige giganten
verenden
wie auf den rücken gelegte insekten
auf verwundeter, schwarzer landschaft.
Die Schachnovelle
acht zum quadrat
im dunklen raum
blind – simultan
sonst nichts

 

F: Die Frau vom Meer (Musik für Sopran, Countertenor und Harddiskrecording, 2003)

Die Frau vom Meer von Susan Sontag nach dem gleichnamigen Stück von Henrik Ibsen. Bühne & Regie Otto Kukla. Theater Neumarkt Zürich, September 2003

Sopran: Gerlinde Sämann – Countertenor: Florian Mayr

 

(…) Es geht um individuelle Vorstellungen von Menschen, es geht um deren Lebensentwürfe, die Frage nach Freiheit und Wahl: wie möchte ich leben, was ist Glück, was ist Liebe, was bedeutet Freiheit für mich. Und wie sind diese Vorstellungen vereinbar mit denen der Anderen. Im Stück prallen die Lebensentwürfe von Hartwig und Ellida aufeinander. Sie hat das Brackwasser (also Hartwigs Lebensentwurf und Erwartung an Ellida) gewählt und versucht, zu dieser Wahl zu stehen – gleichzeitig hat sie ständig den nicht mehr realisierbaren oder in der Realität nicht realisierten Wunsch nach dem freien Meer: nach Offenheit, Unendlichkeit, eine Sehnsucht, die sich nicht logisch formulieren lässt.
Die kapitalistische Bewusstseinsindustrie hat sich angeschickt, Lebensentwürfe gleichzuschalten. Menschen werden dazu abgerichtet, in einer Art „seelischen Klimaanlage“ zu leben. Alles soll sich quasi in voreingestellten Funktionstemperaturen abspielen. Es geht um Simulation von wahren Gefühlen mit zwei Hauptmotiven: erstens wird das individuelle Leben zum „Markt“. Wenn man den zum Klienten umgeformten Menschen erst einmal soweit hat, das er „freiwillig“ davon überzeugt ist, ohne seelische Klimaanlage nicht mehr glücklich sein zu können, bleibt ihm gar nichts anderes mehr übrig, als seine persönlichen Bedürfnisse innerhalb dieses Systems aufgehoben zu sehen und an dessen aufgestellte Wertmaßstäbe zu glauben. Damit direkt verbunden ergibt sich zweitens eine gewollte Kontrolle und Abhängigkeit, denn der Produzent entscheidet ja in Wirklichkeit, was zu welchem Preis „auf dem Markt“ zu haben sein wird (und was nicht!). Im Stück ist die Figur des Arnholm ein passendes Rohmodell mit seiner „es ist ganz einfach, das Leben, wenn man weiss, was man will“ – Pseudophilosophie der (Schein-) Souveränität. Dieses „Ich weiß, was ich will“ – Stereotyp des selbstbewusst-erfolgreichen Homo Ökonomicus ist in meinen Augen nichts anderes als die bedingungslose Verinnerlichung der systemischen Vorgaben. Biografien ohne innere Widerstände, Brüche, Zweifel und Abgründe sind immer postulierte, „designte“ und konforme Biografien. Die Figur der Ellida dagegen kann nicht anders, als an ihrem persönlichen Entwurf festzuhalten. Sie fühlt, dass die ihr angebotenen Rollenmodelle sie nicht glücklich machen können. Und bezahlt einen hohen Preis: sie steht vor sich selbst und den Anderen als undankbar, unnormal, verrückt, krank, egoistisch, neurotisch und ent-wertet da. Es ist unter den Bedingungen unserer Realität geradezu ein „Standortnachteil“ gegenüber jemandem, der in permanenten 19 Grad Celsius seelisch klimatisiert durchs Leben geht. (…)

Aus einem Interview mit Monika Gysel und Mats Staub, Zürich im September 2003