Gedanken zum Jahreswechsel 2020 – 2021

Letztes Jahr um diese Zeit verbrachte ich jeden Tag einige Stunden am Schreibtisch, um all die Vorhaben auf die Zielgerade zu bringen, die für das Jahr 2020 vorgesehen waren. Ich war im Gegenwarts-Moment des Tuns, die aber gedanklich immer in die Zukunft gerichtet war: die CD und das Buch druckreif machen, die Vernissage vorbereiten und die Konzerttournee… so sah meine „Normalität“ aus, mein Erwartungshorizont, in den ich mit gespannter Vorfreude blickte.

Spätestens Anfang März war dieser –nun schon zum Greifen nahe- Horizont plötzlich weg… wie bei allen anderen von Euch auch.

Ich setzte mich kurz hin und dachte nach. Die für mich zu einem fundamentalen Lebensprinzip gewordene Haltung „Wir können nicht wählen, was mit uns geschieht, aber wir können wählen, wie mir damit umgehen“ ließ mich nicht lange zetern: warum nicht jetzt Dinge angehen, die ich schon immer machen wollte, für die aber keine Zeit zur Verfügung stand, weil andere Dinge immer eine höhere Priorität hatten?

Ich nahm ein großes Blatt Papier und schrieb auf, was mir zu diesem Thema einfiel und bin einige dieser Dinge konzentriert angegangen. Ich konnte über das ganze Jahr aktiv bleiben, schon allein deswegen, weil ich mich auf dem Land vollkommen frei bewegen konnte – ein Riesenprivileg für das ich sehr dankbar bin. Was meine Konzerte betrifft, bin ich – wie alle anderen auch – in einer seltsamen Warteschleife. In Anbetracht dessen, was 90 Prozent der Weltbevölkerung durchmachen müssen, scheint mir das aber ein absolutes Luxusproblem zu sein.

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In der Corona-Pandemie spiegelt sich das gesamte Problemspektrum unserer aktuellen Lebensform. „Corona“ wirkt wie ein Brennglas, unter dem wir die existierenden Probleme betrachten können. Corona scheint mir Medium, Teilaspekt und weiteres Symptom, das strukturelle Probleme unserer Weltordnung und unseres Lebensstils aufzeigt: Eine Krise in der Krise.

Nachvollziehbar und doch unbefriedigend:  In meiner Wahrnehmung wird „Corona“ in der öffentlichen Diskussion jedoch vor allem als eine Art schrecklicher Ausnahmezustand (Betriebsunfall) thematisiert, den wir mit Technik („Impfstoff“), technokratisch-staatlichen Mitteln („Lock down“, „Milliardenhilfsprogramme“) und „Verantwortung des Einzelnen“ möglichst schnell in den Griff kriegen wollen, um danach zum allgemein herbeigesehnten „Normalzustand“ zurückkehren zu können. Natürlich ist Gegenwarts-Bewältigungs-Management aus dem realpolitischen Werkzeugkasten wichtig und richtig, doch kann das alles sein?

Ist es nicht so, dass sich unser Lebensstil seit mindestens dreißig Jahren sowieso nur noch mit erheblichen kognitiven Dissonanzen oder einem radikalen Ausblenden der Gesamtzusammenhänge aufrechterhalten lässt?

Was eigentlich ist daran wirklich „normal“, angesichts der existierenden globalen Zustände (ökologisch, ökonomisch, sozial und geopolitisch)?

Ich vermisse den ehrlichen Versuch zum Aufbau einer großen gesellschaftlichen Diskussion, wie eine andere Zukunft aussehen könnte. Ich wünsche mir, diese Aufgabe als hochengagierte EXISTENTIELLE Herausforderung, als PROJEKT zu begreifen – nicht nur als eher marginale dekorativ-schöngeistige Beilage auf den Feuilletonseiten der Leitmedien. Immerhin scheint der neoliberale „der Markt, der alles richten wird“-Bullshit endgültig vom Tisch zu sein. Staatliche Interventionen, in einem Umfang, die vorher unmöglich schienen, sind plötzlich möglich, allein seine Ziele sind mir leider ausschließlich im „Weiterso“ verhaftet.

Wann, wenn nicht jetzt?

 

Die Zukunft ist nicht immer die Fortführung der jüngsten Vergangenheit.

In diesem Sinne von ganzem Herzen das Allerbeste für das neue Jahr wünscht Euch

Euer Harald