Mein gelbes Notizbuch #5 – Über die Faszination der Wiederholung

Zwei tragende Grundelemente hat die Musik, die mich seit jeher interessierte und sich wie ein kontinuierliches Band durch sämtliche meiner Schaffensperioden gezogen hat: Ich liebe Melodien und ich liebe sich wiederholende Tonfolgen. Woher kommt eigentlich meine Faszination für die Wiederholung?

 

I

Ich atme ein – ich atme aus – ich atme ein – ich atme aus.

Jeden Tag umkreist die Erde einmal die Sonne. Es gibt einen Morgen, einen Mittag einen Abend, es wird hell, es wird dunkel, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, der Mond geht auf, Stern für Stern zeigt sich am Himmel. Jeden Tag aufs Neue. Tag und Nacht. Es wechseln Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Bis in alle Ewigkeit.

Lebewesen werden geboren, leben und sterben, werden geboren, leben und sterben. Wir entstehen aus Energie. Wir nehmen Energie. Wir geben Energie ab. Nichts geht verloren. Ebbe und Flut. Elektronen rotieren um Atomkerne. Die Zeiger meiner Uhr drehen sich im Kreis. Die Ringbahn fährt im Kreis. Räder. Windmühlen. Motoren. Jeden Tag um die gleiche Zeit starten und landen die Flugzeuge. Einsteigen – aussteigen. Ampeln wechseln von Rot nach Grün, Rot nach Grün. Anfahren – anhalten.

Ich atme ein – ich atme aus. Ich atme ein – ich atme aus.

 

II

Alles was ich wahrnehme, spielt sich in Kreisbewegungen, Zyklen, sich ewig wiederholenden Intervallen, Rhythmen, Schleifen, Loops ab. Doch keine Wiederholung ist mit der nächsten identisch: Leben ist Fluss, Entwicklung und Veränderung im scheinbar immer Gleichen. So nehme ich dieses unfassbare Leben, von dem ich fasziniert und staunend überwältigt bin, wahr. Und meine Musik kann ja nichts anderes als Spiegel und Ausdruck dessen sein.

 

III

Nichts fängt an, nichts hört auf. Nur ich bin einmal zufällig in dieses Gesamtkontinuum eingestiegen und werde eines Tages wieder aussteigen müssen – wie jedes andere Lebewesen. Vielleicht liegt auch im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit meine Faszination für die Wiederholung begründet, da ich mit Hilfe von Loops und repetitiven Patterns eine Form von Unendlichkeit erreichen und erleben kann.

IV

Und: Die Wiederholung erzeugt ein Anhalten der Zeit, eine Verlängerung des Moments durch Zeitschleifen. Beliebig lang anhaltend. Ein rotierendes Inne-Halten in ausgedehnter Gegenwart.

 

V

Von Anfang an war es so: Nichts liebe ich beim Spielen mehr als die Euphorie, die in meinem Inneren entsteht, wenn eine immer wieder wiederholte Phrase mehr und mehr von der physischen Motorik in Abstraktion übergeht, wenn der Geist aufhört, den Körper überprüfen zu müssen, wenn Körper und Geist aufsteigen und zu fliegen beginnen, wenn Energie in einem aufgehobenen Zustand erlebt wird, in dem Flügel, Hände, Klang, Rhythmus, Zeit, Raum, Innenwelt und Außenwelt in einer anderen Dimension zu einem einzigen Da-Sein zusammenfließen.

 

VI

„Der Wiederholung etwas Neues entlocken, ihr die Differenz entlocken – dies ist die Rolle der Einbildungskraft oder des Geistes, der in seinen mannigfaltigen und zersplitterten Zuständen betrachtet.“
Gilles Deleuze, „Differenz und Wiederholung“ (1992)

 

VII – Repetitive Music, spontane Auswahl

Philip Glass: „Two Pages“
Philip Glass: „Music in Contrary Motion“
Steve Reich: „Piano Phase“
Steve Reich: „Drumming“
Tangerine Dream: „Cherokee Lane“
Kraftwerk: „Trans Europa Express“
Donna Summer & Giorgio Moroder: „I Feel Love“
John Adams: „China Gates“
Laurie Anderson: Oh Superman
Phuture: „We are the Phuture“
Orbital: „Chime“
Arvo Pärt: „Spiegel im Spiegel“
Max Richter: „Sleep“