Mein gelbes Notizbuch#4 – Autobahn und die Wiederholung von Tonfolgen (Autobiografisches 1975–1980)

„Autobahn“ war für mich ein fundamentales Erlebnis, eröffnete eine neue Dimension in meiner Welt. War die Musik, die mich umgab, klanglich, stilistisch, kompositorisch und motivisch bisher in zeitlich Vergangenem aufgehoben, so traf mich nun etwas, was ich in jeder Hinsicht als GEGENWÄRTIG begreifen konnte: so gegenwärtig wie die Autos auf der Straße, „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen oder die verschiedenen Welten in der DDR und der BRD.

Es ging um das, was sich im Hier und Jetzt um mich herum abspielte, und es klang auf unglaubliche Art in etwa so, wie es klingen könnte, aber in meinem Kopf noch nie geklungen hatte. Trotz allem Neuen schien es mir dennoch erstaunlich vertraut: Ich hörte es als eine natürliche Fortsetzung der mir bekannten klassischen Musik. Bach – Mozart – Beethoven – Schubert – Schumann – Debussy – Kraftwerk. Na klar! „Autobahn“ lag mir definitiv weitaus näher als die überall zu hörende Rock-, Pop- oder Jazzmusik.

Das Allerbeste an dieser neuen Musik war: Ich hörte musikalische Figuren, die innerhalb des Stückes ständig wiederholt wurden. Genau das war – seit ich das Klavier entdeckte – das, was mich beim Musikmachen am allermeisten begeisterte: ein Motiv immer und immer wieder zu wiederholen, so wie man ein Wort, weil es so toll klingt, immer wieder vor sich hinspricht, oder stundenlang gebannt von einer Modellbahn ist, die im Kreis herumfährt. Genau das, die Wiederholung eines Themas, hatte ich in der offiziellen Musik, der ich bisher begegnet war, immer vermisst. Also hatte ich es selbst gemacht!

Mein erstes selbst gespieltes Loop war Takt 1 aus dem Präludium Nr. 2 in c-moll von J.S. Bach, aus „Das Wohltemperierte Klavier, Teil 1“.

Ich wollte wissen, was das ist: „Autobahn“… Im Plattenladen sah ich das Cover. Eine gemalte Autobahn mit einem schwarzen Mercedes, einem weißen VW Käfer, grüne Hügel, gelbe Sonnenstrahlen, blauer Himmel … es sah aus wie ein modernes Bilderbuch! Meine Eltern schenkten mir die Platte, die nun ständig von mir zu Hause gehört wurde. Es begann eine Phase, in der ich erstmal keine Musik mehr spielte, sondern nur noch hörte. Ich sog sie begierig auf und wollte immer mehr, immer mehr davon. Ich suchte im Radio nach Programmen, die ähnliche Musik spielten. Dann bekam ich meinen ersten Kassettenrekorder, mit dem ich Stücke, die mir besonders gefielen, aufnehmen konnte. Das Spektrum an der Musik, die mich faszinierte, weitete sich konsequent aus: Pink Floyds „Shine On You Crazy Diamond“ und vor allem Deutsches: Roedelius, Möbius, Rother und Can.

1977 entstanden vier Alben, die als Klassiker und Meilensteine der elektronischen Musik im allgemeinen gelten, sich aber sofort auch als persönliche Stil-Ikonen in meiner eigenen musikalischen DNA nachhaltigst manifestierten:

  • Kraftwerk: „Trans Europa Express“
    • Jean-Michel Jarre: „Oxygène“
    • Tangerine Dream: „Encore“ (Live)
    • Donna Summer & Giorgio Moroder: „I Feel Love“

Danach kam Punk, dessen Musik mich nicht sonderlich begeisterte, sehr wohl aber seine Haltung: „Jeder kann die Musik machen, die er will. Dazu musst du nicht mal richtig spielen können. Erst recht kannst du es mit jeder Art von Equipment machen, Scheiß drauf, was die großen Bands am Start haben.“

Schon kurz davor hatte ich begonnen, wieder eigene Musik zu machen. Langsam lies das beklemmende Konservatoriums-Zwangs-Trauma nach. Über das Radio kamen die direkten Anregungen wieder aus der modernen klassischen Musik: John Cage sprach über neue Kompositionstechniken („Feel free!“), über Klang und die Überwindung des Gegensatzpaars Musik/Geräusch. Steve Reich und Philip Glass machten Minimal Music mit Naturinstrumenten, wie auch ich sie mit dem Klavier spielen konnte. Mein Problem war, dass ich diese repetitive Pattern-Musik nun gerne im elektronischen Sound machen wollte. Wie ich mittlerweile herausbekommen hatte, erforderte dies leider eine ganze Armada von unerschwinglich teuren Synthesizern, Rhythmusmaschinen, Sequenzern und Studiogeräten. Aber wie gesagt: „Es kommt auf das Wollen an, nicht auf das Equipment. Du kannst es mit allem machen! Vergiss die Perfektion! Mach es einfach. Improvisiere, experimentiere – mach’ es mit dem, was Du hast!“.

Ich war in der 11. Klasse am Gymnasium. Politisch hochengagiert. Organisierte Sitzstreiks. Trug „Atomkraft? Nein Danke!“-Sticker. Ich ließ mir die Haare abschneiden. Hörte Human League, „Tuxedomoon, The Residents, Die tödliche Doris Der Plan und Deutsch Amerikanische Freundschaft. Es war Zeit, selbst musikalisch loszulegen … ich wollte Teil dieses Wahnsinnskosmos’ sein.