Mein gelbes Notizbuch #7  – DAS ERSTE WERKSTATTKONZERT

Ich legte einen langen, intensiven Weg zurück – er dauerte etwa acht Jahre. Auf der Landkarte schob sich mehr und mehr der Punkt ins Blickfeld, vor dem ich am Sonntag um 18.58 Uhr konkret stand. Zwei Gipfelplateaus im hohen Gebirge, getrennt durch einen gähnenden Abgrund dazwischen, über den ein dünnes Seil gespannt war, um den Weg auf der anderen Seite fortsetzen zu können.

Jetzt stand ich davor und musste auf das Seil gehen …

Mein Freund und pianistisches Gegenüber Marco Maria sagte vor kurzem: „Harald, genieße diese Zeit, in der alles so zerbrechlich für dich ist. Wo du glaubst, ständig am seidenen Faden zu hängen. So wie du gebaut bist, wirst du jetzt manchmal nervlich heftig darunter leiden. Aber es ist eine Zeit, die du – in dieser Intensität – so vielleicht nie mehr erleben wirst.“

Am Sonntag, 2. Oktober 2016, um 19.00 Uhr spielte ich das erste Mal meine Klavierstücke offiziell vor öffentlichem Publikum. Ein Ereignis, dem ein lang gehegter, tiefer Sehnsuchtstraum vorangegangen war, gleichzeitig aufgeladen mit unerhörter Spannung und Angstpotentialen. Ich gehe zur Bühne, spreche mit dem Publikum und sehe in seine wohlwollend gespannten Augen. Dann nehme ich am Flügel Platz, schließe die Augen, atmete tief und gleichmäßig durch. Stille. Konzentration. Jetzt sind nur noch der Flügel und ich da. Wir beide sind eins. Sonst nichts mehr. Die linke Hand beginnt. Ich betrete das Seil und mache den ersten Schritt.

Der erste Zyklus mit drei hintereinander gespielten Stücken lief in mir wie eine hyperrealistische Traumsequenz ab. Danach die zweite Ansage, gefolgt von dem ersten Hochschwierigkeitsgrad-Stück … Viele Passagen des Konzertes konnten aus meiner eigenen Empfindung heraus schöner nicht sein. Da war ich ganz bei mir und gleichzeitig im Klang und im Spiel.

Es gab Momente im Konzert, wo mein Bewusstsein sich verabschiedete. Wo meine Kraft zu flackern anfing und mir auszugehen drohte, wo ich nicht mehr wusste, wie es weitergeht. Es übernahmen die Finger, über die ich aber keinerlei Kontrolle mehr hatte. Ich sah auch keine Tasten mehr. Es war wie in Antoine de Saint-Exupérys Erzählungen, wenn er mit seinem Flugzeug in brutal dichte Wolkenformationen hineinflog, keinerlei Orientierungskontrolle mehr hatte, seine Maschine in heftigen Windböen zu taumeln begann, um dann irgendwann irgendwo wieder aus dem Nebel aufzutauchen und Himmel und Sterne ihm erneut Orientierung gaben.

Mein Feurig-Flügel war wunderbar! Er machte alles, was ich nur wollte, und gleichzeitig spielte er mit mir und nahm mich mit. Gemeinsam genossen wir den großartig klingenden Raum und das phantastische Auditorium. Ja, das Publikum: Es war ein Traum! Hochkonzentriert. Äußerst gespannt und gleichzeitig offen für eine neue, ungewohnte Musik. Beim Spielen hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören können. In den Pausen streichelte mich eine Woge der emotional aufgeladenen positiven Resonanz. Die Reaktion nach dem Konzert: mehr geht eigentlich gar nicht!

Jetzt ist eine neue Tür in meinem Leben aufgegangen. Ein neues Kapitel in meinem Lebensroman. In den nächsten Monaten möchte ich mit möglichst vielen Werkstattkonzerten diesen Weg fortsetzen: experimentieren, an Erfahrung gewinnen, das Erlebte aufarbeiten, stabil werden … Alors!