Mein gelbes Notizbuch #8 – AUTOBIOGRAFIE UND UMWELT

Über das Verhältnis „Autobiografie“ und „Umwelt“ in der Kunst

 

Grundsätzlich entsteht jedes künstlerische Werk aus dem Spannungsverhältnis von Person und Umwelt bzw. gesellschaftliche Verhältnisse. Fakt ist, dass niemand behaupten können wird, etwas „komplett aus sich selbst zu schöpfen“. Wir sind in unserem Schaffensprozess auf der einen Seite und unserem Rezeptionsprozess auf der anderen – bewusst oder unbewusst – immer von dem beeinflusst, was uns im Laufe unseres Lebens besonders eindringlich „unter die Haut“ gegangen ist. Wir greifen auf einen stetig wachsenden Pool aus Erfahrungen, Erkenntnissen und Inspirationen zurück, die von außen auf uns wirken. Je größer dieser organisch verinnerlichte Pool, je komplexer vernetzt die einzelnen abgespeicherten Informationen sind, desto größer die Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks! Es entsteht eine Art seelische DNA, ein historischer Fundus und gleichzeitig eine eigene IDENTITÄT, aus der das künstlerische Ich schöpft, mit dem das künstlerische Ich in Resonanz geht und dadurch in der Lage ist, ein ständiges Update, eine permanente Neudefinition des Status quo zu entwickeln.

GEDANKENSPIEL: Wenn ich an meinem Flügel sitze, dann spielen also Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Debussy, Satie, Cage, Ligeti, Reich, Glass, Pärt, Winston, Mertens, Sakamoto, Max Richter und-und-und immer mit … Und trotzdem kommt etwas dabei heraus, was zweifellos „Harald Blüchel“ ist, der womöglich wiederum in den Ohren vieler Anderer mitspielt.

Kommen wir vom künstlerischen Stil zur künstlerischen Motivation. Grundansatz wird sein: „Ich habe aufgrund einer Erfahrung X oder einer Situation Y das Bedürfnis, meine daraus resultierenden Gedanken und Emotionen in eine für mich beschreibbare Form zu überführen; ich betreibe Reflexion in Transformation und ich will mich mit dem Ergebnis nach Außen mitteilen.“

Können autobiografische Werke für den Hörer Sinn machen? Stichworte dazu wären: „Identifikation“, „Konfrontation“, „Aufhorchen“ und „Relevanz“. Das gekonnte Retuschieren bzw. Aufpeppen von bereits Bekanntem und Gängigem – am simpelsten durch neue Technologie („Alter Wein in neuen Schläuchen“) – wird gern genommen, reicht mir vom persönlichen Qualitätsanspruch an eine Komposition aber nicht aus. Marktgesetze, Marktchancen, Trends und (unterstellte) Publikums-erwartungen hin oder her. Dagegen macht es Sinn, von einer eigenen Befindlichkeit, einer eigenen Position auszugehen, um in der künstlerischen Auseinandersetzung dann zu einer neuen, möglichst verdichteten Aussage zu kommen. Das ist meiner Ansicht nach der stärkste, weil direkteste kreative Ansatz, der mir zur Verfügung steht. Die Herausforderung und der Reiz besteht darin, in andere Rollen zu schlüpfen, verschiedene Standpunkte auszuloten, dazuzulernen, eine Sache zu drehen und zu wenden, um ihr im Laufe der Arbeit vielschichtige, also auch NEUE Aspekte abzugewinnen, die sich erst im Prozess ergeben konnten. Ich möchte als ausführender Künstler eine komplexe (Micro-)Welt zur Verfügung stellen können.

Wenn ich selbst Publikum bin, wünsche ich mir vom Werk eines Künstlers einen TRIGGER-Impuls: dass es mich berührt, dass es im übertragenen Sinn eine Saite in mir anschlägt. Inspiration: Im besten Fall bereichert es meine Wahrnehmung von der Welt, möglicherweise auch in irritierender oder verstörender Weise. Sei es, dass mir dadurch vollkommen neue Blickwinkel eröffnet werden, mit denen ich mich danach auseinandersetzen möchte (kreativer Diskurs), oder sei es, dass verwandte und bekannte Empfindungen, Wahrnehmungen oder ästhetische Übereinstimmungen mich in meinem eigenen Sein auf eine so noch nicht ausgedrückte Art bestätigen und auf meinem eigenen Weg bestärken (kreativer Konsens).

Wenn ein Kunstwerk etwas mit mir tut, entsteht eine sich rückkoppelnde gegenseitige Beziehung. Es versetzt mich in eine schwierig beschreibbare neue Stimmung, bietet mir neue Möglichkeiten der Weltwahrnehmung und Weltsicht an. Den autobiografischen Hintergrund, die Motive des Künstlers zu kennen, kann meine eigene Vorstellung verstärken – muss es aber nicht notwendigerweise. Kunst, die mich BEEINDRUCKT, setzt der Vorstellungskraft keine Grenzen. Sie bringt in Bewegung, weil sie subjektiv, eindeutig und gleichzeitig offen genug ist, einen prägenden, im Idealfall unvergesslichen Eindruck zu hinterlassen.