Mein gelbes Notizbuch #9  – MY GENERATION 

MY GENERATION 

 

I

Wir wurden geboren im Westdeutschland der 60er Jahre.

 

Für unsere Eltern ging es ständig aufwärts,

sie hatten Arbeit und Perspektive,

sie hatten den unverrückbaren Glauben an ein Leben in Wohlstand und Sicherheit,

in Freiheit und Demokratie.

 

So wuchsen wir ohne materielle Nöte wohlbehütet und guterzogen heran,

in den Zeiten des kalten Kriegs, in denen es die Guten („Die freie Welt“) und die Bösen (den „Ostblock“) gab.

Unsere Großeltern erzählten vom Krieg und von Hitler,

manche malten diese Zeit in düsteren Farben,

die meisten nicht.

 

Ruinen, Bunker, Luftschutzkeller und Probealarm waren noch ganz normal.

Wir spielten auf der Straße,

wir waren dabei, als sich unsere Eltern den ersten Kühlschrank, den ersten Fernseher, die erste Waschmaschine und das erste Auto kauften.

Wir sahen ihren Stolz.

Wir erlebten, wie das Telefon, die Zentralheizung, das eigene Kinderzimmer häuslicher Standard wurde.

 

Die Post wurde noch zweimal am Tag ausgetragen.

In der Straßenbahn fuhr ein Schaffner mit.

Am Bahnhof musste man Bahnsteigkarten lösen,

aus den Fabriken strömten die Arbeiter am Nachmittag.

Die Schornsteine rauchten.

Zum Einkaufen gab es den Milchladen, den Gemüseladen, den Fleischer, den Bäcker, den Kolonialwarenladen, den Feinkostladen.

 

Wir spielten „Mensch ärgere Dich nicht“ oder Mikado,

wir wählten zwischen Lego und Fischertechnik,

zwischen Modelleisenbahn und Carrera,

zwischen Matchbox und Holzspielzeug.

Wir hörten Märchen,

und sahen die (auf eine Stunde täglich beschränkte) „Kinderstunde“,

den Maulwurf, Pittiplatsch und das Sandmännchen liebte ich, Mickey Mouse & Co. eher nicht.

 

Wir staunten über die Plattenspieler und ersten Tonbandgeräte.

Bei der Oma drehten wir am Radio, liebten das „Magische Auge“ und lauschten dem Rauschen, dem Fiepsen und den fremden und verzerrten Stimmen aus aller Welt.

 

Wir waren Zeugen der ersten Mondlandung.

 

Wir fuhren in den Urlaub nach Österreich, Italien, Jugoslawien.

Ich war sehr oft bei meinen Verwandten in der DDR.

Wir wünschten uns eher Spaghetti als Spinat.

Eine Pizza war die Ausnahme,

Sushi kannten wir nicht.

Es gab Bouletten, Schnitzel oder Rotbarsch.

Ich aß viel Obst und Haferflocken.

 

Wir mussten recht früh ins Bett,

doch die Tage waren lang und voll mit Spiel auf der Straße und in den Hinterhöfen,

lesen, malen und Klavier.

 

 

Wir waren immer sehr viele.

Wir waren die Babyboomer.

In den Klassen saßen vierzig Kinder.

Dadurch gab es viele Rückzugsgebiete, wir standen nicht ständig unter Beobachtung, man konnte in der Menge auch mal untertauchen.

Mindestens drei von uns hießen Thomas, Christian, Petra oder Andrea.

Die Klassen waren durchmischt von allen sozialen Schichten:

Arbeiter-, Kleinbürger- und Mittelstandskinder, nicht getrennt.

Wir hatten eine groteske Melange aus Ex-Nazi- und Post-Apo-Lehrern.

Es gab die Pelikan- und die Geha-Füllfederhalter-Fraktion.

Wir hatten Tintenkiller, die bald nur noch als Blasröhrchen verwendet wurden.

 

Die reformierten Lehrpläne boten uns im Deutschunterricht Brecht, Frisch, Böll, Bachmann, Enzensberger und Hemingway,

Englisch lernten wir mit Texten von John Lennon, Bob Marley und Malcolm X,

die Geschichts- und Sozialkundestunden schärften unseren kritischen Blick auf die Idylle unserer Eltern.

 

Wir trugen Parkas und „Atomkraft? Nein danke“-Sticker.
Die Jeans mussten von Wrangler oder Levi’s sein,
die Schuhe von Adidas oder Puma.
Che Guevara hatten wir als Poster.
Es gab Performance, Happenings, Popart und Teach-ins.
Ich konfirmierte im Jahr des „Deutschen Herbst“.

Im Kino sahen wir Fassbinder, Herzog, Malle, Truffaut, Godard, Bergman, Pasolini und Antonioni.
Wir vollzogen den unglaublichen musikalischen Bogen von Beatles und Doors über Pink Floyd und Led Zeppelin zu Joy Division, Tuxedomoon, Human League und DAF.
Oft eingebunden in eine klassische musikalische Erziehung an Klavier oder Geige, wenigstens aber an der Blockflöte.
Wir sind musikalische Kinder des Krautrocks.
Wir waren die erste Generation, die die elektronische Musik mit der Muttermilch aufgesogen hat.

Wir fuhren mit Bussen auf Friedens- und Anti-AKW-Demos.
Wir besetzten Häuser und verweigerten den Kriegsdienst.
Wir spendeten für Nicaragua und empörten uns über die Verbrechen der „zivilisierten Welt“.
Wir verstanden die RAF.
Wir konnten alle Drogen bekommen.
Wir provozierten unsere Eltern oft bis aufs Blut.

Dann bekamen wir zu hören: „Geht doch rüber in die DDR, wenn es euch hier nicht passt …“

 

 

Wir profitierten von den Errungenschaften der freien Liebe.

Wir trampten durch Europa und schliefen in unseren Schlafsäcken auf den Bahnhofsvorplätzen von Venedig, Athen und Marseille.

 

Wir registrierten das erste Knirschen im gesellschaftlichen Gebälk:

Die Ölkrise.

Die erste Welle einer beginnenden Massenarbeitslosigkeit.

Die Thematisierung der „staatlichen Schulden“.

 

Ich machte Abitur im Jahr der „geistig-moralischen Wende“.

Es kam das Privatfernsehen,

und überhaupt begann sich von nun an alles immer schneller und weitreichender zu privatisieren.

 

Die Welt bestand aus Sicherheiten, die wir anzweifelten.

Mit Reagan rückte die Welt wieder näher an den Krieg.

Wir lasen „Global 2000“.

Dann kam Tschernobyl.

Dann kam Gorbatschow.

Dann fiel die Mauer.

 

Wir studierten querbeet.

Wir waren Hippies,

wir waren Punks,

wir waren Disco,

wir waren Sanyasins,

wir waren Hausbesetzer,

wir machten Techno.

Wir sind viel in der Welt herumgekommen.

Wir haben einiges erlebt,

das Fürchterlichste aber erfuhren wir nur aus den Nachrichten.

 

Unsere Vorstellung von einer neuen, anderen, veränderten Welt bestätigte sich –

doch weitgehend nur im Negativen, je deutlicher sich der Neoliberalismus als das offenbarte,

was der Kapitalismus immer war.

Diese Welt wurde greller, lauter, paralleler, schneller – das ja,

aber nicht friedlicher, solidarischer, gerechter, bunter.

Sie wurde kälter, uniformer, ökonomischer, effizienter, hektischer, gleichzeitig widersprüchlicher, fragmentierter, rücksichtsloser, vulgärer und gnadenloser.

 

Wir waren aktive Teilnehmer am immer schneller werdenden technologischen Fortschritt:

innerhalb von 25 Jahren hörten wir Musik aus dem Plattenspieler, dem Tonband, dem Kassettenrecorder, dem Walkman, dem CD-, DAT-, Minidisk- und dem MP3-Player.

Wir sahen Filme aus dem Fernseher, Super 8, Video VHS und DVD.

Wir ersetzten den Rechenschieber durch den Taschenrechner,

das Ziffernblatt durch rotes LED.

Einen C64 fanden wir sensationell, dann kamen Amiga und Atari,

wir vollzogen jede Entwicklungsetappe mit auf dem Weg zum PC, zum Laptop, zum Internet, zum Mobiltelefon, zum iPad und zum Smartphone.

 

 

II

Wir leben meist in Städten, die immer größer werden und sich innerhalb ihrer Bezirke immer mehr voneinander in arm und reich, elend und schick abgrenzen.

Wir leben meist allein.

Wir haben mindestens drei wichtige und lange Beziehungen begonnen, gelebt und beendet.

Wir sind alleinerziehend, im Patchwork oder ohne Kind.

Wir leben oft zusammen mit Tieren.

Flugreisen zu allen Orten der Welt sind selbstverständlich.

Sprachen verdunsten zu einem globalisierten Geschäfts- und Unterhaltungs-Englisch.

Alle Orte der Welt gleichen sich immer mehr an – sofern es um das geht, was Rendite einbringt.

Der Rest interessiert nicht.

 

Mehr von Allem heißt nicht mehr vom Besseren.

Wachstum heißt nicht Entwicklung.

 

Jeder kann es schaffen – aber nicht alle!

 

Zwischen Sicherheit und Unsicherheit,

zwischen Unwohl-Sein und williger Akzeptanz,

zwischen Aufgeklärtheit und Scheinselbständigkeit,

zwischen Träumerei und Desillusionierung,

zwischen Weltschmerz und Zerstreuungssucht,

zwischen Solidarität und Wettbewerb,

zwischen Identität und den aufgezwungenen Notwendigkeiten,

die als „Realität“ und „Chance“ ausgegeben werden.

 

Wir glauben,

aus freien Stücken

das zu tun,

was wir tun sollen,

was erwartet wird,

was „vernünftig“ und „realistisch“ ist,

was „Aussicht auf Erfolg“ hat.

 

Das nenne ich Scheinselbstständigkeit im reinsten Sinne des Wortes.

 

 

Immer wieder höre ich Sätze wie:

wenn ich es nicht tue, dann tut´s halt ein Anderer.

das, was ich gerade tue, tue ich nur vorübergehend,

wenn ich könnte, wie ich wollte…

eigentlich will ich etwas ganz Anderes.

 

Lebendigkeit stellt sich oft nur noch dort ein,

wo eine Kamera läuft.

 

 

 

Wir scheinen alle Freiheiten zu haben,

doch werden keine echten Perspektiven im Großen diskutiert:

es gibt nur was es gibt.

Alles ist irgendwie da und

irgendwie möglich und

irgendwie auch ok

weswegen Nichts mehr wirklich Wert hat.

Alles könnte morgen ganz anders sein.

 

So wird Tiefe zum Anachronismus,

Zeit, Abstand und Ruhe zur Kostbarkeit,

Nichterreichbarkeit zum Privileg,

vertikales Wahrnehmen, Denken und Fühlen zu etwas sehr Rarem.

 

Doch das Rare ist das Wertvolle und Kostbare.

 

Noch liegt alles, was jemals

gedacht, geschrieben, gemalt, gespielt und komponiert wurde

vor uns wie in einem großen Buch, in dem wir lesen können.

Noch ist Geschichte nur editiert, nicht geschwärzt oder gelöscht.

 

Doch aus Geschichtsbewußtsin wird Retro,

aus klug wird smart,

aus angepasst wird flexibel,

aus handeln wird agieren,

aus erleben wird simulieren,

aus Intuition wird Instinkt,

aus Klarheit wird Coolness,

aus Überwachung wird Sicherheit,

aus Sicherheit wird Selbstverantwortung.

aus Sinn wird Zweck,

aus Selbstentwurf wird sich an den Realitäten orientieren,

aus vielschichtiger Persönlichkeit wird variable Rolle,

aus Beruf wird Job,

aus Achtsamkeit, Mitgefühl und Empörung wird belächelte Naivität.

 

 

 

Noch haben wir die Möglichkeit, das Navigationssystem auszuschalten,

um unsere eigen Wege zu finden und zu gehen.

Noch drehen wir den Lichtschalter selbst aus und an.

Noch existiert die Tiefe mit all ihren Dimensionen und Möglichkeiten.

 

In die Tiefe zu gehen braucht

Zeit,

Ruhe,

Konzentration,

Disziplin,

Geduld und

Unabhängigkeit.

 

Unabhängigkeit kommt aus Haltung.

Haltung kommt aus Inhalt.

Inhalt kommt vom Inne-Halten.

 

Inne Halten ist die Voraussetzung für bewusste Bewegung.