Zum Tod Michail Gorbatschows (Mein gelbes Notizbuch #19)

I

Gerade erfuhr ich in den Nachrichten vom Tode Michail Gorbatschows.

Und wenn ich einen Tag und eine Nacht an meinem Schreibtisch durchschreiben muss…

Ich werde es tun, um mit allem, was ich habe, einem Menschen zu gedenken, der – wie Wenige während meiner Lebenszeit- kraft seiner Gedanken, seines Handelns, seines Mutes und seines Herzens, der Welt Impulse gab, die sie besser hätte machen können.

 

Es ist traurig und tragisch und gleichzeitig himmelschreiend ungerecht, dass es ihm nicht gelang.

Im Gegenteil: erst verlor er die praktische Möglichkeit, sein politisches Werk als Präsident der Sowjetunion fortzusetzen an einen mediokren, aber willigen Gehilfen geopolitischer und  wirtschaftlich-neoliberaler Interessen der USA mit Namen Boris Jelzin.

Dann verlor er seine über alles geliebte Frau und Begleiterin Raissa Maximowa Gorbatschowa („Mit ihrem Tod ist der wichtigste Teil von mir gestorben“).

Und spätestens seit 2007 musste er mitansehen, wie seine Überzeugungen, seine Ideen, Vorschläge, sein Weitblick und seine Prognosen zu Politik und Weltgeschehen, die er weiterhin durch eigene Stiftungen und internationale Organisationen kundtat, immer mehr von dem Triumpf- und Kriegsgeheul westlicher Medien und Politiker hinweg-marginalisert  wurden. Sein weltweites Engagement lies trotz alledem nicht nach.

Die letzten Jahre verbrachte er schwerkrank in seinem Haus in Moskau.

Am Ende seines Lebens musste er erleben, wie seine –kalt ausgeschlagenen- Einschätzungen genau zu der Situation eskalierten, vor der er die letzten fünfundzwanzig Jahre gewarnt hatte. Eine weltpolitische Lage, die düsterer, hoffnungsloser und gefährlicher ist, als sie jemals zu Zeiten des Kalten Kriegs gewesen war. Schlimmer noch: sie erinnert den geschichtlich Gebildeten an die Vortage des ersten Weltkrieges im Jahr 1914.

 

Michail Gorbatschow gehört maßgeblich zu den Menschen, die mein politisches Denken prägten und den Begriff „Hoffnung“, also die Vorstellung, dass es jenseits der monolithischen Realpolitik, die auf der Durchsetzung der eigenen Interessen durch strukturelle (d.h. systemideologische) und faktische (d.h. militärische und wirtschaftliche) Gewalt beruht, eine andere Art des Zusammenlebens auf dieser Erde möglich sein kann.

 

Er steht für mich an erster Stelle einer Geistesfamilie (…Martin Luther King, Olof Palme, Willy Brandt/Egon Bahr, Petra Kelly, Eugen Drewermann, Dalai-Lama…), ohne deren Existenz ich sehr wahrscheinlich schon jede lebensbejahende Vorstellung hinsichtlich der Möglichkeiten des politischen Handelns aufgegeben hätte.

 

Ich habe nicht die Talente, die Berufung, die Kraft und die Konstitution, als politische Persönlichkeit öffentlich im Sinne dieser Geistesfamilie zu wirken. Doch fühle ich mich ihr aus tiefster menschlicher Überzeugung zugehörig und werde sie sowohl in meiner persönlichen Ethik und Haltung als auch in meinem künstlerischen Tun niemals verraten – komme, was da wolle.

 

Heute ist wieder ein trauriger und nachdenklicher Tag in meinem Leben.

 

 

II

 

Hochverehrter Michail Sergejewitsch,

 

ich verneige mich vor Ihnen in größter Dankbarkeit, Bewunderung, liebevoller Sympathie und großer Trauer.

Ich übermittle Ihrer Familie und all mit Ihnen eng verbundenen Freunden, Begleitern, Mitstreitern und Unterstützern meine tiefste Anteilnahme.

Und abschließend meine – aus biografischen Gründen – besondere geistige Verbundenheit mit dem russischen Volk.

 

Sie werden immer in meinem Herzen sein –  so wie Sie in den Herzen, Gedanken und Gebeten von Millionen anderer Menschen der Weltfamilie weiter leben werden.

 

Ihr

Harald Blüchel (Himmelpfort/Deutschland, 31. August 2022)

 

Ich habe einen Traum:

dass sich zu Ihrem Gedenken, hochverehrter Michail Sergejewitsch, die führenden Weltpolitiker*innen an einem neutralen Ort zu unvoreingenommenen, ernsthaften, seriösen Gesprächen zusammenfänden.

Ohne Vorbedingungen.

Eine Initiative, noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

Die Reiz-Reaktions-Spirale anzuhalten.

Zur Besinnung zu kommen.

Dialogfähig zu werden.

Den Befürchtungen der Gegenseite Beachtung zu schenken.

Sich gegenseitig eigene Fehler einzugestehen, zu erklären und um Verzeihung zu bitten.

Der Gegenseite ermöglichen, das Gesicht zu wahren.

Sich entgegenkommen.

Vertrauen entwickeln.

Aus Verantwortung vor der Menschenfamilie und dem gesamten Planeten –

und nicht vor den jeweiligen Sponsoren, Auftraggebern, Mitläufern, Profiteuren und Schreihälsen.

Wie wäre das?

 

 



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