Mein gelbes Notizbuch #6 – Über den essenziellen Unterschied zwischen Sinn und Zweck

I

Ich kann auf sehr verschiedene Arten auf den Gipfel eines Berges gelangen. Zum Beispiel, indem ich eine stunden- oder tagelange Wanderung mache. Wenn ich dann oben angekommen bin, werde ich müde und glücklich sein; ich werde meinen Körper spüren, der schwer und gleichzeitig leicht ist und sich jedes Detail der vorherigen Anstrengung gemerkt hat. Meine Seele wird sich zu ihm legen und meine Sinne werden erzählen von dem wundervollen Panorama, der Wahnsinnsluft und der unglaublichen Stille. Vielleicht werde ich mich danach hinlegen und erschöpft einschlafen, dann wieder aufwachen und es kaum glauben können, wo ich bin. Und danach werde ich mir Gedanken darübermachen, dass ich einen langen Abstieg vor mir haben werde.

Ich kann auch mit der Seilbahn hochfahren, locker und gut gestylt da oben ein Selfie produzieren, das Ganze in den sozialen Medien posten und davon schwärmen, wie geil es hier oben ist und wie mich das alles so wahnsinnig zu einem neuen Stück inspirieren wird.

Noch unangestrengter geht es, wenn ich meine gated Community gar nicht verlasse und mich einfach über Google Earth auf den Gipfel wischle und ganz fasziniert den 360-Grad-View anglotze. Wow!

II

Der Musiker Jon Hassell hat einmal gesagt: „Das Publikum interessiert sich nur für das Ergebnis. Denen ist es doch egal, ob du zwanzig Jahre gebraucht hast, um das hinzukriegen, was du machst, oder ob du es von einer Platte runtergesamplet hast.“ Sehr wahr! Hinzuzufügen wäre: Auch die meisten Künstler interessieren sich nur noch für das Ergebnis. Denn sie sind clever genug und haben die überall geltenden Marktgesetze und deren Beachtung verinnerlicht – sie verhalten sich danach.

Gut und schön. Ich habe mir im Laufe meines Lebens immer konsequenter erlaubt, es so zu machen, wie es für mich stimmig ist. Die Maßgabe meiner Entscheidungen ist der SINN und nicht der ZWECK!

Wo wir wieder beim Bergsteigen sind. Ich kann Musik-Machen als einen langsamen, manchmal recht mühevollen und doch beglückenden Weg, den ich gehe, auffassen, als eine Entscheidung für die Sache AN SICH. Das Musikmachen vorstellbar als ein langer, vielgestaltiger Entwicklungsprozess. Ich befinde mich ich in einem offenen Dialog: lernen, sich spiegeln, sich einer Idee immer wieder aufs Neue annähren in der Komposition. Mein Wunsch ist, einen Gedanken, eine möglichst vielschichtig durchdrungene Idee in möglichst einfacher Form zum Klingen zu bringen.

III

Da ich als Komponist zunächst eher nicht von der „Spielbarkeit“ eines Stücks ausgehe, sondern an erster Stelle die „Botschaft“ steht, muss ich danach in die Rolle des Interpreten schlüpfen, der die in der Partitur vorliegende Komposition ausführen soll. Anders als beispielsweise in der elektronischen Musik geht es ja gerade darum, dass diese (Klavier-)Kompositionen nicht nur gehört, sondern prinzipiell auch 1:1 unabhängig von mir gespielt werden können. Also überprüfe ich im nächsten Schritt: Liegt das Stück „gut in der Hand“, macht es Spaß, es zu spielen, lädt das Stück dazu ein, sich damit als Übender auseinanderzusetzen?

Gerade das „Üben“ führt – wenn man kein professionell ausgebildeter Virtuose ist – in der heutigen Zeit alle Effektivitäts- und Rationalisierungsprozesse hinsichtlich der Zeit ad absurdum. Denn beim „Üben“ kann es ja gerade nicht darum gehen, Zeit zu „sparen“, möglichst „schnell“ „Resultate“ zu erzielen, etwas möglichst „mühelos“ zu absolvieren, sondern es geht um Begeisterung und Sinn, um die Freude darüber, freie Entscheidungen hinsichtlich der eigenen Lebenszeit bedingungslos treffen zu können und dabei auch Herausforderungen zu meistern, die viel mit Geduld und der Überwindung von Frustrationsmomenten zu tun haben.

Alles hat seinen Preis, das ist klar. Mit der Praxis darüber, in Sekundenschnelle kopiert und künstlerisch geplündert zu werden, musste ich als Komponist immer leben. Mit dem Wissen, in der zur Verfügung stehenden Zeit qua Technologie und Arbeitseinstellung fünfzig Mal „produktiver“ sein zu können, ebenfalls. Was ändert das an meiner eigenen Haltung, an meinen Schlüssen, die ich daraus ziehe und an meinem eigenen Leben?

Nichts!