Sonntagsausflug in die Wirklichkeit

Eine Fahrt mit dem M85 von der Hauptstrasse zum Hauptbahnhof, 16. August 2009

I

Hauptstrasse

Die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse einer Umgebung lassen sich gut an ihrer sogenannten „Infrastruktur“ ablesen: die Hauptstrasse existiert in fragiler Balance aus „guten“ Läden (Commerz-/Berliner Bank, Bio-Supermarkt, guter Bäcker, Anschluß zur Akazienstrasse …) und Billig-Shops(Matrazen-Laden/ Spielos/ Wettbüros/ Multi-Shops/ Döner-Imbisse). Eine Konstellation, die jederzeit umkippen könnte: das Kaufhaus Hertie schloss vor zwei Jahren, eingezogen sind Reno-Schuhe … Kein gutes Zeichen. Noch mischen sich Studenten, Türken, gut situierte Mitdreißiger bis Mitfünfziger, Mittelstandsrentner und Obdachlose.

II

Potsdamer Strasse

Eine Gruppe von großgewachsenen, athletischen Tommy-Hilfiger-College-Studenten-Replikas wartet braungebrannt, kurzhaarfrisiert in Sonnenbrillen, kurzen Hosen, Polohemden und hochpreisigem Freizeitschuhwerk (Mokassins, Ledersandalen oder Edel-Sneakers) auf den Bus. Ihre lauten, lächerlichen Posen, die weltgewandte Lässigkeit ausdrücken sollen.

Auf der anderen Strassenseite der gleichaltrige Gegenentwurf: bullig-tumbe, rotgesichtige Typen, Sportlerhaarschnitt (Strähnchen, hochgegeeltes Mittelhaar, schwer muskelbepackt,) bei gleichzeitigem Fettansatz in ordinären Dreiviertelhosen, laut bedruckten T-Shirts bzw. offenen Freizeithemden und Badelatschen.

Beiden Gruppen ist gemeinsam: die lässig in den Händen gehaltenen Bierflaschen und zum Himmel schreiende Posen, die sie sich von ihren jeweiligen Medienleitfiguren abgeschaut haben. Gemeinsamer Nenner: Figuren wie Pocher, Raab oder Schweiger.

III

Potsdamer Platz

Auf einem riesigen, eine Baustelle verhängenden Werbeplakat lese ich irrtümlich Potsdamer Terror statt Potsdamer Tor.

IV

Friedrich-Ebert-Strasse

Eine vollbusige Touristenschönheit stolziert durch den Betonstehlenparcour des Holocaust-Mahnmals. Ihr in historische Ergriffenheit eingepackter Sexappeal, den sie zur Schau stellt, hat Filmreife-Niveau. Besseres Material könnte sich kein RTL-Werbe- oder Dokufilm-Dienstleister-Produzent wünschen.

V

Regierungsviertel

Mit einem gewissen herablassenden Ekel eingedenk der schlauen Verschlagenheit Konrad Adenauers biege ich in die nach ihm benannte Strasse ein.

Ich kann die monumentale Ödnis des Regierungsviertels nicht fassen. Mich befremdet das fast ehrfürchtige Flanieren der Menschen entlang der erbärmlich-sterilen Spreeuferbetonpiste, die nichts Anderes ist als bestellte postmoderne Herrschaftsarchitektur, dem staunenden Volk medial aber als State of the ArtWeltklasse überaus hochpreisig verkauft wird (und von ihm auch bezahlt werden mußte).

Ein kleines, altes Schiffchen aus DDR-Produktion, das zwischen den Touristendampfern und Wannsee-Jachten entlangschippert, stimmt mich wieder versöhnlich.

Junge Paare aus der Unterschichtenelite holen aus den Kofferräumen ihrer 3er-BMWs und Audi A4s prall gefüllte „Dunkin-Donats“ oder „Burger-King“ – Tüten für ihre Promenaden-Picknicks. Die sogenannten Strandbars sind proppevoll.

VI

Bundespressestrand

Sound: liebloses pseudo- „Cafe-del-Mar“-Lounge-Compilations-Irgendwie, Springbrunnenplätschern, Busmotorengeräusche, Gesprächsfetzen, Handypiepen, Zugvorbeifahrten (ICE-Regionalexpress-S-Bahn-Regionalexpress-S-Bahn-ICE-usw.),Schritte auf Holzbohlen. Lässig-gemäßigter Urban-Ballermann.

VII

Neue Schönhauser, Monsieur Vong

Ein schwarzer Touran-SUV mit westdeutschem Provinzkennzeichen fährt im Schritttempo die Straße entlang. Darin zwei herausgaffende Wohlstandspärchen in den Mitdreißigern. In mir steigt ein mit Ekel vermischtes Hassgefühl auf. Das, was ich gerade sehe, scheint ein Gleichnis für alles zu sein, was ich an dieser, meiner Umwelt verabscheue: Protzigkeit, Geschmacklosigkeit, Gesichtslosigkeit, Geld-, Status-, Erfolgshörigkeit, Scheinsouveränität, Selbstgefälligkeit … Leute, die sich fühlen und eigentlich auch so sind wie Til Schweiger … mittelmässige Ficknullen auf der Überholspur in die entleerte Sattheit…Ihre Überheblichkeit ist zwangskompensierte Dummheit.

Der gleichzeitig verträumte und absolut klare Blick eines engelsgleichen kleinen Kindes, das zwei Meter von mir sitzt, lässt mich das vorhergehende schon wieder lächelnd vergessen. Dann genieße ich endlich mein wunderbares Essen.