Mein gelbes Notizbuch #10 – LEBENSWENDE 1999 – TEIL 1

Es geht im Leben immer wieder um die Frage: Welchen persönlichen Preis zahle ich für meine Handlungen? Welchen persönlichen Preis zahle ich dafür, einen gewählten Lebensentwurf zu verwirklichen und aufrecht zu erhalten, welchen persönlichen Preis zahle ich dafür, einen gewählten Lebensentwurf zu verändern? Auf was kann ich verzichten, auf was nicht, was fehlt mir, wohin geht meine Sehnsucht? Wo stoßen der sogenannte Realitätssinn und die Sehnsucht an eine nicht mehr zu überbrückende (Schmerz-)Grenze? Und schließlich: Welche Konsequenzen ziehe ich daraus?

Aus jeder elementaren Veränderung des Lebensentwurfs resultieren einschneidende Verluste, dessen muss man sich absolut im Klaren sein (sonst braucht man gar nicht erst damit anfangen). Und erst die realisierte Erfahrung beim konsequenten Eintritt in einen neuen Lebensweg wird zeigen, ob man dem, was man suchte, näher -gekommen ist oder eben nicht.

Ich wollte aus dem Leben, das ich führte, aussteigen. Das klingt grotesk, wird doch der Begriff „Aussteiger“ allgemein mit einer Biografie verbunden, die aus dem verordnet-getakteten Alltagsleben (Job, Ehe, Auto, Haus) in eine Alternativwelt überwechselt. Gerne werden da beispielsweise Manager aus der Wirtschaft hergenommen, die sich von einem Tag auf den anderen aus ihrem Glasbüro im 39. Stock eines Bankhochhauses auf den Weg in ein tibetisches Kloster machen … Von außen betrachtet, müsste doch ein freier und gefeierter Künstler (der seinem Publikum über seine Werke und seine Ausstrahlung eigentlich genau diesen vollzogenen „Ausstieg“ symbolisiert) DE FACTO dort angekommen sein, wohin sich die Mehrheit der Menschen sehnt.

Mein Wunsch nach Veränderung resultierte aus dem sich verstärkenden Gefühl, etwas aus eigenem Wollen zu tun, aber gleichzeitig mehr und mehr zu diesem freiwilligen Tun gedrängt zu werden … Am Horizont der Freude am Tun tauchte die erwartete Rolle dieses Tuns auf. Die Rolle zu spielen überlagerte verstärkt das wahrhaftige Spielen, allgemeiner und gleichzeitig genauer gesagt: das wahrhaftige Leben.

Als ich darüber mehr und mehr nachdenken musste, fiel mir auf, dass ich mir die Frage, was „wahrhaftiges Leben“ eigentlich sein soll, überhaupt nicht beantworten konnte. Ich konnte nur endlich den Gedanken in mir zulassen, dass einiges in meinem Leben nicht (mehr) stimmig war, dass sich einiges ungesund anfühlte und ich empfand eine steigende Sehnsucht nach „Erlösung“, von der ich anfangs gar nicht wusste, von was. Und wie sie eigentlich aussehen sollte.

Ich wollte herausfinden, weshalb und warum das so war. Dazu musste ich eine Ahnung davon bekommen, wer ich eigentlich wirklich bin. Und dazu – das war mir klar – brauchte ich Zeit, Ruhe, Abgeschiedenheit; Abstand von dem Bisherigen nehmen, um Konzentration auf diese existenzielle Frage zu haben. Ich sah keinen Kompromiss. Also stieg ich Ende 1999 aus.