Mein gelbes Notizbuch #11– LEBENSWENDE 1999 – TEIL 2

Am Ende der neunziger Jahre war ich an einem Punkt angekommen, an dem ich an der existenziellen Frage nicht mehr vorbeikam – ob ich an einem lieb gewordenen Status festhalten sollte, der mir unterschwellig zunehmend Unbehagen bereitete. „Cosmic Baby“ entwickelte sich in der Innenansicht mehr und mehr zum zwanghaften Ideal, zum Abbild, zur Rolle, zur Marke: Für das Publikum wie für mich selbst verschwand der Mensch Harald Blüchel hinter der (bewusst) selbst geschaffenen Kunstfigur, die mich zu dominieren begann und deren Anforderungen der reale Mensch aus Fleisch und Blut nicht mehr gerecht werden konnte. Da war keine Distanz mehr, sondern eine fatale Verschmelzung mit finalem „Take over“.

Ich musste feststellen: Mein ganzes Leben war um „Cosmic Baby“ herum gebaut. Wer war ich eigentlich ansonsten? Was blieb von mir übrig?

„Cosmic Baby“ war als quasi lebendes Musikinstrument und kreativer Resonanzkörper meine absolute Identifikation geworden: die besonderen Momente des „gebündelten Glücks“, der rauschhaften Euphorie, der puren Freude beim gemeinsamen Erleben auf Partys und Konzerten. Das Gefühl des Vereinigt-Seins bei kompletter Selbstbestätigung. Das Gefühl, direkt im Hier und Jetzt etwas zu tun, was die Erde positiv erzittern lässt. Das Gefühl, für etwas, das aus einem kommt, geliebt zu werden. Das Gefühl, dass das, was man tut, andere Menschen glücklich macht. Das Gefühl, in einer Gemeinschaft verstanden zu werden. Das Gefühl, mit der Summe meines kreativen Potentials etwas wirklich Sinnvolles zu tun, an einer Sache teilzuhaben, die imstande schien, die ganze Welt zu verändern. Das Gefühl, eine Sache wegen der Sache an sich – ohne Hintergedanken – zu tun. Freunde und Gedankenverwandte überall auf der Welt gefunden zu haben.

Der Rückzug bedeutete eine riesige Leerstelle. Was sollte ich mit der Zeit anfangen, die gefüllt gewesen war mit Auftritten, Studiozeit, Öffentlichkeitsarbeit und permanenten Planungen für die Zukunft? Wie lässt sich ein Leben organisieren angesichts der mit dem Ausstieg verbundenen schwindenden Einnahmen? Bleibe ich musikalisch kreativ? Was passiert mit meinem Selbstwertgefühl? Andererseits: Ist es nicht großartig, ganz neu zu beginnen? Über die Lebenszeit neu verfügen zu können. Zeit zu haben, nachzudenken. Die Möglichkeit zu haben, eine neue Art zu finden, ein Leben zu gestalten – mit offenem Ausgang.

Mir machte mir der Gedanke Mut, dass ich nichts von der Techno-Zeit vergessen, nichts davon aus meiner Erinnerung zu verbannen brauchte. Ich wollte diesen (Lebens-)Schatz in mir erhalten, aber nicht ausplündern, nicht verraten, nicht gegen mein Gefühl weitermachen, um, wie es so schön heißt, das „Beste daraus zu machen“.

Frage: „Vermiss(t)e ich mein altes Leben?“ Antwort: „Das, was man „vermisst“, hat vor allem damit zu tun, was man „braucht“, um ein möglichst selbst bestimmtes Leben in möglichst großem inneren Frieden realisieren zu können.“

Ich versuche mich zu erinnern. Ich vermisste als allererstes:
• das ständige Unterwegs-Sein
• das ständige Beschäftigt-Sein
• die Adrenalin-Schübe vor und bei den Konzerten.

Dann vermisste ich:
• das im Fokus stehen
• das Bewundert-Werden
• das immer etwas „Neues“-zu-erzählen-Haben
• die direkte musikalische Inspiration durch das Reisen an neue Orte auf der Welt/die intensiven menschlichen Begegnungen und Freundschaften, die sich quasi ohne Anstrengung von selbst ergaben.

Und ganz allgemein vermisste ich das Gefühl, quasi mit einem „Access to all Areas“-Pass mit einer Selbstverständlichkeit ohne Erklärungsnotwendigkeit durch das gesellschaftliche Leben gehen zu können: Die Türen waren überall offen, ständig gab es Anfragen von sogenannten wichtigen oder interessanten Leuten, ich konnte ansprechen, wen immer ich wollte, ich konnte fordern, was immer ich wollte, ich musste mir null Gedanken um Geld machen …

Es dauerte eine Zeit, mich freizuschwimmen. Es ist wie wenn man auf dem Deck eines Schiffes steht, das den Hafen verlässt und sich auf eine Reise hinaus aufs weite Meer begibt. Das Land wird kleiner und kleiner, bis es komplett aus dem Gesichtskreis verschwunden und um dich herum nur noch endloses Wasser zu sehen ist. Offene See! Das Gewohnte verliert nach und nach seine Bedeutung, und obwohl das Ziel der Reise überhaupt nicht zu sehen ist, kommt der Punkt, wo du nicht mehr umkehren willst, da sich mittlerweile schon viele neue Ideen, Erlebnisse und Erfahrungszustände herausgebildet und etabliert haben. Eine Ent-Wöhnung vom Alten schafft Platz für Neues.

Ich fand, dass gerade ein alles in allem gelungener Lebensabschnitt die Möglichkeit bot, erst loszulassen, um dann zu anderen Ufern aufzubrechen; dass verschiedene Lebensentwürfe innerhalb eines einzigen Menschenlebens versucht werden können!

Zwischen 2000 und heute kristallisierte sich für mich heraus: Echten Wert hat eher nicht, was sich zählen, messen, anhäufen lässt; Wert hat, was unter dem Verdacht auf inneren Frieden steht. Was das ist, hat der, der sich ein neues Leben sucht, ALLEIN zu entscheiden. Mache dir den großen Unterschied zwischen innerer und äußerer Freiheit klar: Die äußere Freiheit ist von außen immer manipulier- und antastbar. Die innere Freiheit nicht: Für sie bist nur du verantwortlich. Wenn du sie entwickelst, kann sie dir nicht genommen werden. Aus ihr entsteht deine Haltung, deine eigene Sicht auf die Dinge und du wirfst dein Herz zusammen mit deinem Verstand in die Wagschale. Du übst Verzicht, weil du scheidest und dadurch entscheidest. Du bringst dir dein „richtiges Leben“ selber bei. Mit allen Irrungen und Wirrungen. Du gehst auf Kurs …