More Ohr Less 2018 und die Hingabe

Ich bin noch ganz überwältigt von den Eindrücken, die ich vom diesjährigen More Ohr Less – Festival mit nach Hause nehmen konnte. Hier einige meiner Gedanken – eine Woche danach…

 

1

Jeder kennt das: sich an einen Ort zu begeben, an dem man Intensives erlebt und danach zurückkommt mit wunderbarem seelischen Gepäck.

Das, was ich dort erlebt habe, lebt in mir weiter; die Echos sind in meinem inneren Resonanzkörper noch deutlich zu hören inklusive Nachhall. Für was sind solche Erlebnisse da? Sie im Augenblick zu genießen, mit ihnen im Nachgang dankbar, kreativ umzugehen, sie pflegen, in die eigene Lebenspraxis integrieren und versuchen, sie mit anderen zu teilen und weiterzugeben.

Wie immer, wenn man unter dem Einfluss eines (neuen) Gedankens steht, verändert sich die Wahrnehmung. Sie wird schärfer: man beschäftigt sich mit einem Thema, und plötzlich scheint die Welt plötzlich voll davon zu sein.

Das MOL ist Musikfestival und Symposium. Ich nenne es Begegnungsstätte. Es steht jedes Jahr unter einem Leitmotiv, dieses Jahr: Hingabe/Devotion.

Ich erlebte Außerordendliches in fast unendlicher Fülle & Intensität:

Der gelebte Geist des Festivals, die Menschen, die Vorträge, die Gespräche, Austausch, Inspiration, Geistesverwandtschaft, eine Insel, ein großer kleiner Kreis, Musik in all ihrer Diversität an Herkunft, Stil und Produktionsmitteln: ein kleines, anderes Bayreuth,aber ohne Repräsentationsfirlefanz –

 

statt des wagnerianischen grünen Hügels der blaue roedeliussche See…

 

Ich könnte sagen, hier wird ein Teil dessen realisiert, was Joseph Beuys sich unter sozialer Plastikvorgestellt hat.

Denn More Ohr Less ist denkbar als soziale Plastik. Alle, die da waren (die, die es ermöglichten und die, die sich auf verschiedenste Art daran beteiligten) arbeiten an der Modellierung mit, füllen die Idee mit Leben.

 

2

 

Hingabe, wie ich sie mir in idealer Vollendung vorstellen könnte wäre:

die Aufhebung der SELBSTVERGEWISSERUNG in der SELBSTVERGESSENHEIT,

beziehungsweise die Aufhebung der SELBSTRÜCKNAHME in der SELBSTBEHAUPTUNG.

Hingabe beinhaltet in seinem Tun die sorgfältige Konzentration auf etwas. Man tut es der Sache wegen an sich.

 Hingabe verlässt den Weg des Machbaren, den Weg des Zweck-Nutzen-Denkens, den Weg des ökonomischen Denkens, dass sich nur das lohnt, aus dem man einen Profit ziehen kann, was sich rechnet. Hingabe ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung.

 Hingabe ist keine Kalkulation und keine Spekulation.

 Hingabe erfordert Mut: denn sie ist der Weg in die Aufgabe der Selbstkontrolle und macht folglich auch verletzbar.

Hingabe lässt zu, lässt seinund nimmt in Kauf. (Rosa Roedelius)

Und wir sollten uns darüber im Klaren sein und zulassen: jedem Handeln, auch dem Hingebungsvollsten liegen vielfältigste eben auch widersprüchlichste Motive zu Grunde: die positiv konnotierten wie Liebe, Freude, Inspiration, Mut, Sorgfalt, Engagement, Tiefe, etc. aber auch die ihre verdrängten Gegenpole Eitelkeit, Realitätsflucht, Angst, Geltungssucht, Einsamkeit, das Bedürfnis den individuellen Mangel und die Leere zu stillen, etc.

Hingebungsvolles Handeln hat für mich nichts mit Naivität zu tun (naiv sind in meinen Augen eher diejenigen, die ihr Leben damit verbringen den Erwartungen anderer entsprechen, so sein zu wollen, wie sie –in den Erwartungen der Mehrheitsmeinung- sein sollen…).

Hingabe kann nicht verordnet, nicht einmal „empfohlen“ werden. Sie kommt aus dem Inneren. Sie entspringt der persönlichen inneren Freiheit, sich für eine Sache zu bewusst zu entscheiden. Und für jede bewusste Entscheidung trage ich auch die Verantwortung. Entscheidung und Verantwortung brauchen für ihre gelingende Realisierung Klarheit. Also bedeutet Hingabe auch die Lust daran, eine Differenz zu entwickeln.

Zudem scheint mir wichtig, die Trennungslinien herauszuarbeiten, den kritischen Punkt zu bestimmen, an dem eine Sache in eine andere kippen kann:

An welchem Punkt wird aus Hingabe Selbstaufopferung?

Wann kippt die Hingabe in Fanatismus in seinen vielfältigen Ausprägungen, also in zwanghaftes oder/und instrumentalisiertes Handeln?

Ist dieser kritische Punkt überhaupt klar zu bestimmen?

Ich denke: Zur Hingabe gehört unbedingt die SKEPSIS, die Fähigkeit dazu, auf reflexive DISTANZ zur Welt und zu sich selbstzu gehen. Es ist vonnöten, über die Konsequenzen meiner Entscheidung nachzudenken, ansonsten kann aus hingebungsvollem Tun blindes, verantwortungsloses Handeln werden.

Hingabe fliegt uns nicht zu, sie bedarf einer Idee und einem Weg, den wir gehen und üben müssen hin zur KLARHEIT.

Und: Hingabe braucht viel (ergebnisoffene) Geduld.

 

 

3

 

Christine Roedelius: „Das Leben ist ein Gebet“

Gelebte Hingabe habe ich angetroffen. Die Anwesenden haben sich darüber ausgetauscht. Das Thema wurde über die Woche ständig weiter vertieft. Es offenbarten sich immer neue Aspekte, unter denen das Thema betrachtbar ist.

Hingabeerlebe ich auch hier im Jetzt.

Ich bin überzeugt davon, dass die gelebte(und nicht die behauptete) Hingabe als positive Energie in den Weltgeist getragen wird und Bestandteil des kollektiven Weltgedächtnisses ist, in dem alles aufgeht, was jemals getan und gedacht wurde.

Die individuelle Hingabe mag leise, bescheiden und wenig wirkmächtig scheinen angesichts der herrschenden massiven Dominanz des Zweck-Nutzen/Gewinner-Verlierer/Wachstum-Markt-Dogmas.

Es scheint immer dasder Fall zu sein, was Macht, Gier, Geld und Gewalt hinter sich hat, was alles platt macht, einebnet, zubetoniert und zerstört, das im Weg steht. (Beuys: „Die Ermordung der Seelen“).

Doch wunderbarer Weise gibt es (in jeder Epoche, in jeder Kultur, an jedem Ort) immer Menschen, die sich unbeirrt ihre Freiheit bewahren, das zu denken, zu fühlen und zu tun, was ihren inneren Vorstellungen entspricht, obwohl oder gerade weil es sich von dem unterscheidet, was ihnen als der einzig „vernünftige“, „notwendige“, „realistische“ oder „erfolgreiche“ Weg verkauft werden soll.

 

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.“

(Vaclav Havel)