Zum Geburtstag meines Lieblingsonkels

 

Lieber H.,

in der Biografie eines jeden Menschen gibt es ein geflochtenes Band von Situationen, deren Erlebnisse unauslöschlich in unserem Gedächtnis aufbewahrt werden. Wir nennen sie Schlüsselerlebnisse, weil wir uns in der Retrospektive der Tatsache bewußt werden, dass sie einen bestimmenden Einfluss auf unser Leben ausgeübt haben. Ohne diese Eindrücke wären wir nicht die, die wir sind, oder etwas vorsichtiger formuliert, die, die wir glauben zu sein.

Bestimmenden Einfluss auf unser Leben hatten und haben sie, weil sie uns aus einer expliziten Situation heraus dazu inspirierten, die gemachte Erfahrung wiederholen zu wollen. Sie ließen uns eine neue Lebens-Entdeckung machen, schoben eine Entwicklung an, weckten eine bis dato noch verborgene Leidenschaft, lenkten uns bewusst oder unbewusst, eine  bestimmte Kursrichtung auf unserem Lebensweg einzuschlagen.

  1. Die wunderbare Welt der Bücher

Ein Raum in einer Altbauwohnung. Ein in einem „L“ angeordnetes, bis zur hohen Decke reichendes Regalsystem aus massivem Holz, in dem eine unzählbar große Menge von Büchern beheimatet ist. In seltsamen Formationen stehen sie in den Regalen: manche in Größe und Farbe uniform, ordentlich aufgereiht in Reih und Glied wie eine kleine Armee, andere, vor allem die großen, in denen mehr Bilder und Fotos als Buchstaben zu sehen sind, quer aufeinander geschichtet, wieder andere sind zusammengestellt wie ein unendlich langer Güterzug, der aus vielen verschiedenen Wagontypen besteht.

Dieser in gedämpftes Licht gehüllte Raum, wird komplettiert mit einer grünen Sitzgarnitur bestehend aus zwei Sesseln, einem langen, in seiner Höhe verstellbaren Tisch und einer Couch. Mindestens auf einem der Sessel, sowie auf dem Couchtisch stapeln sich eine weitere Anzahl von Büchern zu kleinen Türmen. Auf der Couch liegst Du, in ein Buch vertieft; auf dem Boden sitzend tue ich es Dir nach. Es ist wunderbar still. Ein friedliches Zusammen-Sein zwischen den Büchern, ihren Ideen und Dir und mir. Es wird wenig gesprochen. Es muss nicht gesprochen werden. Es muss kein Fernseher laufen und oder ein Radio plappern. Es ist alles da, was mein Herz begehrt. Du liest in Deinen Büchern und ich habe mir meine aus den Regalen geholt, auch wenn ich die Buchstaben noch nicht verstehen kann, so ist mein Aufbruch in die Welt der Bücher schon in diesem Alter von etwa vier Jahren vorgezeichnet. Unterstützt und gefüttert von den wundervollen Märchen und Geschichten, die ich vorgelesen bekam. In der Schule hatte ich von Anfang an ein empathisches Verhältnis zu Sprache und Text. Ich las und las. Mein Einstieg in die grosse Literatur waren Werke von Grass und Böll – da war ich dreizehn. In der Mittelstufe des Gymnasiums machte ich Bekanntschaft mit Frisch, Brecht, Eich, Enzensberger, Jandl, Borchert, Büchner, Tucholksky. All das wurden Freundschaften und Quellen der Erkenntnis fürs Leben! Zu meinem 16. Geburtstag schenktest Du mir eine Hesse Gesamtausgabe. Mit siebzehn stibitzte ich Dir die „gesammelten Erzählungen“ von Thomas Mann, zur gleichen Zeit verliebte ich mich in Beauvoir und Sartre. Und so ging es weiter und weiter. Bis heute. Bis heute und solange ich leben werde.

Was hat Dich in den Bann der Bücher gezogen ? Welche Motive standen dahinter? Es muss auch bei Dir Schlüsselerlebnisse gegeben haben. Kannst Du Dich daran erinnern? 

 

  1. Die wunderbare Welt des Reisens

Derselbe Raum. Manchmal müssen die Bücherstapel vom Tisch geräumt werden, um den Platz frei zu schaffen für kleine Rähmchen mit Glasfenstern , weiße seltsam gerillte Plastikbehälter und Papierbögen, in denen jeweils 36 kleine Bilder befestigt sind. Dann sitze ich neben Dir auf dem Sofa und sehe Dir dabei zu, wie Du die einzelnen Bilder erst in die Rähmchen und die dann gefüllten Rähmchen in die Plastikbehälter einordnest. Manchmal sehen wir uns diese so genannten Dias zusammen an: entweder, in dem sie bei bloßem Auge nach oben gegen die Lampe ins Licht gehalten, oder, was noch schöner ist, einzeln in den Diabetrachter gesteckt werden, der aussieht wie ein kleiner, 9mal7 Zentimeter messender futuristischer Bildschirm. Du erzählst mir von den Orten, wo Du diese Fotos gemacht hast.

Nie kann ich es erwarten, bis dann endlich der Tag kommt, an dem im Zimmer eine Etage weiter unten Leinwand und Diaprojektor aufgebaut werden und Familie und Freunde die Dias zusammen ansehen. Ich liebe die konzentrierte Atmosphäre im dann nur durch die Projektorenbirne erleuchteten Zimmer. Du erläuterst die einzelnen Diamotive, die in chronologischer Reihenfolge abgespielt, die Geschichte Deiner Reisen erzählen. Unterbrochen werden die kleinen Vorträge nur durch Fragen und Kommentare des Publikums, einem kollektiven Lachanfall, wenn sich entweder unglücklich aufgenommene, gar nicht zum Thema passende, oder auf dem Kopf stehende Dias in die Vorführung gemogelt haben. Spannend auch die Pannen, wenn sich beispielsweise ein Diarahmen im Transporttunnel des Projektors verkantet hat, oder gar die Glühbirne des Projektors mit einem lauten Knall explodiert und ausgetauscht werden muss. Angenehm in meinem Ohr die obligatorischen Geräusche: der tieffrequent summende Dauerton des Projektors, das roboterhafte Knack-Zack-Ratsch, wenn per Fernbedienung das nächste Dia vor die Linse transportiert wird oder das klagend-quietschende Summen, bei dem Versuch, ein optisch aus der Art geschlagenes Dia scharf zu stellen.

Ich sehe die Bilder von fremden Landschaften, Städten die ganz anders gebaut sind, Menschen, die anders aussehen. Früh habe ich das Verlangen, es Dir gleich zu tun: Reisen, die Sehnsucht danach, fremde Orte zu besuchen, fremde Sprachen zu hören, fremdes Geld in der Hand zu haben, andere Luft einzuatmen, anderes Klima zu auf der Haut zu spüren. Meine ersten Reisen in große Städte außerhalb Deutschlands mache ich mit Dir. Mit 12 Jahren fahren wir nach Wien, mit vierzehn Jahren zeigst Du mir London, mit sechzehn Jahren geht es nach Paris. Meine erste eigene Reise mache ich ein Jahr später in die Toskana. Es folgen die klassischen Interrail-/Tramper-Touren in die Türkei, durch Frankreich und Spanien. Später dann kann ich meine Bestimmung und Profession auf perfekte Weise mit meiner Reise-Leidenschaft verbinden: als Musiker werde ich in nahezu jedes Land Europas eingeladen, verlebe zusammengezählt zwei Monate meines Lebens in Australien, pendle wohl 100 Mal zwischen Berlin und den USA und entdecke meine Liebe zu Latein-Amerika.

Was hat Dich in die Welt des Reisens gezogen? Welche Motive standen dahinte ? Es muss auch bei Dir Schlüsselerlebnisse gegeben haben. Kannst Du Dich daran erinnern? Wo warst Du am liebsten? An welchen Orten warst Du am glücklichsten – und aus welchen Gründen?

 

  1. Die wunderbare Welt der bildenden Kunst

Wieder derselbe Raum. In vielen der großformatig gestalteten Bände befinden sich Reproduktionen von Gemälden und Skulpturen. Gerade in der Zeit, in der ich des Lesens noch nicht kundig bin, üben sie eine große Faszination auf mich aus. Ich kann in ihnen blättern, wie Du auch; ich kann persönliche Empfindungen und Aussagen zu ihrem Inhalt machen, denn um Bilder zu betrachten braucht man nichts anderes als Augen und Phantasie. Meine ersten großen Lieblinge entdecke ich schon in dieser Zeit: Dürer und Klee. Der eine vielleicht deswegen, weil ich eines seiner Werke auf dem grünen Fünf-Mark-Schein wiederentdeckte, der andere, weil seine Farben so zart, seine Motive so schön, seine Formen so fragil sind, dass sie mich an Illustrationen aus meinen Lieblingsbilderbüchern erinnern. Im Alter von zehn nimmst Du mich mit nach München. Das erste Mal in meinem Leben stellt sich im Lenbachhaus dieser wunderbare, stille, konzentrierte Dialog ein: zwischen mir (dem Betrachtenden) und dem Bild, beziehungsweise dem Menschen, der es gemalt hat. Durch die Räume zu gehen und dann immer wieder ein Bild zu finden, vor dem ich länger verweilen muss. An dem ich nicht vorübergehen kann, sondern auf magische Weise angezogen werde, so als sage das Bild zu mir: „hier bin ich, Du hast mich gefunden“, oder gar: „hallo, mein Lieber: da bist Du, endlich ich habe Dich gefunden“. Der Moment des Dialogs, der Moment des Eintauchens, der Kontemplation, der Moment, wo alles andere in den Hintergrund tritt, so als gäbe es keine Um-und Außenwelt mehr, sondern nur noch das Bild und mich. Es sind Momente der Andacht. Das Wieder-Erkennen von Welten, die sich bis dato nur in meinem Kopf abgespielt haben und die Freude darüber, dass ich mit Teilen meiner persönlichen Wahrnehmung der Welt nicht alleine bin: die zu Tränen rührenden Tiere von Franz Marc, die explodierenden und gleichzeitig absolut beruhigenden Farb-Form-Kompositionen von Kandinsky, die magisch-ruhenden Gesichtsperspektiven von Jawlensky, die Märchenfiguren von Chagall, die scharf geschnittenen Gesichter und Körper von Kirchner, die göttliche Klarheit und Einfachheit der Skulpturen von Barlach … Später Picasso, Beckmann, Ernst, Grosz, Dix, Schlemmer, El Lissitzky, Rodschenko, Malewitsch, Dali, de Chirico und Picabia. Noch später Lichtenstein, Rosenquist, Rauschenberg … Anselm Kiefer, Mattheuer und Gerhard Richter… und in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse, die Zeit zurück zu gehen: Liebermann, Arnold Böcklin, Caspar David Friedrich …

Was hat Dich in die Welt der Kunst gezogen? Welche Motive standen dahinter? Es muss auch bei Dir Schlüsselerlebnisse gegeben haben. Kannst Du Dich daran erinnern ? Welche Bilder welcher Künstler sind Deine Liebsten – und hast Du schon einmal in Ruhe darüber nachgedacht warum gerade diese?

 

Das sind drei Schlüsselerlebnisse, die zu bestimmenden Elementen meiner eigenen Biografie und Identität geworden sind. Und Du stehst im Mittelpunkt dieser Situationen.

Das ist für mich einer der schönsten und wunderbarsten Tatsachen des Lebens: dass das Verhalten eines Menschen inspirierenden Einfluss auf das Leben eines anderen Menschen haben kann: frei von Erziehungszielen oder Erziehungszwängen, abseits von Rechthaberei oder dem missionarischen Eifer, den anderen nach seinem eigenem Bilde  schaffen zu wollen.

Es ist etwas Anderes. Es ist ganz einfach die Hingabe, das Herz, die gelebte Freude, die wie ein Funke von dem einem auf den anderen überspringt – bedingungslos, absichtslos und un(ver)käuflich – es ist leben und erleben an sich 

So wird – wie Beuys es wunderbar auf den Punkt gebracht hat- „die Flamme weiter getragen“. Und in jedem, der sie aufnimmt und weiterträgt, wächst aus dem vorhandenen Material etwas Neues heran. Eine Essenz, die dann in neu kombinierter Form wieder an einen Nächsten weitergereicht werden kann. Ein unerschöpflicher dialektischer Prozess. Das ist die Geschichte der Ideen, des Austauschs, des Verständnisses und der Inspiration. Das ist die Geschichte des schöpferischen Menschen. Das ist die Geschichte des Menschen, der dem Mensch ein Helfer ist.

So lebt viel von Dir in mir weiter und, wie wunderbar, viel von dir – durch mich transformiert – vielleicht auch in anderen Menschen und so wird es weitergehen … und weitergehen, solange es Menschen und wahrhaftige Ideen geben wird.

Dafür möchte ich Dir danken …

ich wünsche Dir von Herzen das Allerliebste zu Deinem 70. Geburtstag

Dein Harald