Aus Christa Wolf: „Kindheitsmuster“

 

 “Du stellst Dir vor: Aufrichtigkeit nicht als einmaliger Kraftakt, sondern als Ziel, als Prozess mit Möglichkeiten der Annäherung,

in kleinen Schritten, die auf noch unbekannten Boden führen, von dem aus auf neue, heute noch unvorstellbare Weise wieder

leichter und freier zu reden wäre, offen und nüchtern über das, was ist; also auch über das, was war.

Wo die verheerende Gewohnheit von dir abfiele, nicht genau zu sagen, was du denkst, nicht genau zu denken, was du fühlst und

wirklich meinst. Und dir selber nicht zu glauben, was du gesehen hast. Wo die Pseudohandlungen, Pseudoreden, die dich aushöhlen,

unnötig würden und an ihre Stelle die Anstrengung träte, genau zu sein … („Was du noch hoffen kannst / das wird doch stets geboren.”)

Wie doch die Angst zurückweicht, wenn man nur anfängt, daran zu denken. Wie die böse Ahnung, dass es dir bald die Rede verschlagen wird,

sich auflöst und dafür Lust entsteht. Lust zu reden und, wo möglich und nötig, auch zu schweigen.”